Am besten bringt das Problem der Wirtschaftswissenschaften ein berühmt gewordener Brief auf den Punkt, geschrieben von den führenden Ökonomen der angesehenen London School of Economics. Darin rechtfertigen sie, warum kein Gelehrter ihrer Zunft vor der Finanzkrise 2008 gewarnt hat: „Das Versäumnis, den Zeitpunkt, das Ausmaß und die Schwere der Krise vorherzusehen und sie abzuwenden, hatte zwar viele Ursachen, war aber in erster Linie ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen, sowohl in diesem Land als auch international, die Risiken für das System als Ganzes zu verstehen."

Der Brief war eine öffentliche Replik, nachdem die Königin von England die Wirtschaftswissenschaftler bei einer Veranstaltung mit einer simplen Frage aus dem Konzept gebracht hatte: „Warum hat niemand das vorhergesehen?“ Die ratlose Antwort der Wirtschaftswissenschaftler: Sie wussten es nicht. Es war den Finanzakteuren und -Analystinnen offensichtlich entgangen, dass sie mit ihrer Arbeit einen Finanzcrash herbeiführen würden. Keiner der Zahlenjongleure hatte die Krise vorausgeahnt – und mehr noch: sie hatten die Risiken des Wirtschaftssystems systematisch unterschätzt.

Spätestens seit der internationalen Finanzkrise von 2007 stellen sich nicht nur Monarchinnen die Frage, warum die gängige Lehrmeinung in den Wirtschaftswissenschaften große blinde Flecken zu haben scheint. „Egal, ob Sie in London, Straßburg oder Los Angeles studieren, das Hauptaugenmerk wird auf der neoklassischen Theorie liegen, auf mathematischen und ökonometrischen Modellen. Und diese Eindimensionalität ist ein Problem,“ erklärt Nils Goldschmidt, Ökonom an der Universität Siegen.

Die neoklassische Theorie wurde im 19. Jahrhundert aufgestellt und geht von Wirtschaft als einem System von Märkten aus, die auf ein Gleichgewicht hinstreben. Güterpreise werden durch Angebot und Nachfrage bestimmt, Konsumierende wollen durch den Erwerb von Gütern ihren persönlichen Maximal-Nutzen erreichen, Unternehmen reagieren auf den Verbrauch, um größtmögliche Gewinne zu erzielen. Die Anwendung dieser Theorie geht mit einer ausgeprägten Formalisierung der Realität einher: Wirtschaftsvorgänge werden mathematisch dargestellt und geben entsprechenden Analysen eine naturwissenschaftliche Anmutung. „Die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften war der Theorien-Pfad, dem seit dem 20. Jahrhundert gefolgt wurde – und darüber wurden normative Fragen ausgeblendet“, erklärt Nils Goldschmidt. Doch gerade die seien es, die StudentInnen heute brennend interessierten: Warum kalkulieren wir mit endlosem Wachstum in einer begrenzten Welt? Was sagt es über das Modell unserer Wirtschaft aus, wenn die Ökologie nicht mitgedacht wird? Und welches Wirtschaftssystem kann die Probleme unserer Zeit lösen, statt sie zu verschärfen? „Wenn die Wirtschaftswissenschaften keine Erklärungen für die Krisen unserer Zeit anbieten, nicht auf Klimawandel, ökologische Krisen und Kriege eingehen, dann wird an der Realität vorbei gelehrt – dann ist VWL nicht mehr relevant“, so Goldschmidt.

„Wirtschaftswissenschaften for Future“

Einen guten Überblick über wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge, deren Lehrpläne heute schon eine plurale Perspektive bieten, findet sich auf der Seite des Netzwerks „Plurale Ökonomik“ – eine Auswahl gibt es hier:

+ Der Master in Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen hat einen guten Ruf, weil dort drängende gesellschaftliche Fragen wie ökonomische Ungleichheit, Umwelt- , Finanz- und Wirtschaftskrisen interdisziplinär und plural ausgerichtet wirtschaftswissenschaftlich analysiert werden.

+ Auch die private Cusanus-Hochschule in Koblenz und ihr Angebot des Bachelor-Studiengangs „Ökonomie – Nachhaltigkeit – Transformation“ wird in der Szene der „Pluralen ÖkonomikerInnen“ immer wieder hervorgehoben. Zentrale Frage diese Studiengangs ist es, wie ökonomisches HandeIn auf die zentralen Krisen unserer Zeit wirkt und wie eine nachhaltigkeitsorientierte Transformation der Gesellschaft aussehen kann.

+ Lobend erwähnt Nils Goldschmidt auch den Bachelor-Studiengang VWL an der Leuphana Universität Lüneburg, der einen starken Fokus auf Wirtschaftsgeschichte legt, verschiedene ökonomischen Theorien lehrt und es Studierenden ermöglicht etwa Nachhaltigkeitswissenschaften im Nebenfach zu wählen.

+ Andere Hochschulen wie etwa in Bayreuth lösen die Eindimensionalität der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre, indem sie kombinierte Studiengänge anbieten, also zum Beispiel Philosophie, Politikwissenschaften und Ökonomie in einem Studiengang lehren.

MEHR LESEN

Um das zu verhindern, soll die Volkswirtschaftslehre vielfältiger werden – dafür setzt sich seit 2003 Jahren das Studierenden-Netzwerk „Plurale Ökonomik“ ein. Der Verein ist international mit gleichgesinnten Initiativen vernetzt und fordert, dass die Wirtschaftswissenschaften neben der Neoklassik auch andere Denkschulen lehren sollen.

„Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie behindert uns im Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel," erklärte das Netzwerk 2014 in einem Manifest, das Studierendengruppen aus 18 Ländern verfasst hatten. Sie wollten nicht nur immer weiter die neoklassischen Theorien büffeln und dieselben umstrittenen, Thesen ventilieren und fordern stattdessen, dass auch Aspekte der Psychologie und Verhaltensökonomie sowie feministische, neomarxistische Ansätze und Postwachstumsmodelle im Lehrplan stehen –  die etwa der Frage nachgehen wie aussagefähig der Begriff Wirtschaftswachstum ist, wenn darin nur das Bruttoinlandsprodukt, aber nicht die unbezahlte Fürsorge-Arbeit (Pflege von Kindern und Senioren) mitgerechnet wird, die vor allem von Frauen erledigt wird. Und ob es in einer Welt mit begrenzten Ressourcen (wie Wasser, Erde, bewohnbarer Atmosphäre) überhaupt stetiges Wirtschaftswachstum geben kann – oder ob das Wachstumsdiktum den Fortbestand der Ökosysteme und der Menschheit bedroht.

Durchgesetzt hat sich die vielfältigere Ausbildung bisher aber erst an wenigen Einrichtungen – eine davon ist die Universität Siegen, wo seit dem Wintersemester 2016 ein Master in „Pluraler Ökonomik“ angeboten wird, an dessen Aufbau der der Ordnungsökonom Nils Goldschmidt mitgewirkt hat

Einer der ersten Studierenden, die diesen Master durchlaufen haben, ist Marius Ewert. Der 32-Jährige engagiert sich seit Jahren im Netzwerk „Plurale Ökonomik“: „Die Wirtschaftsmodule, die ich in meinem Bachelor an der Uni Halle absolviert habe, liefen eher nach dem Schema ‚Man lernt den Stoff auswendig und gibt ihn in der Klausur unhinterfragt wieder‘. In Siegen hatten wir die Chance, verschiedene Ansätze kennenzulernen und die Plausibilität der Theorien untereinander zu vergleichen. Damit war auch Kapitalismuskritik auf wissenschaftlicher Basis möglich – etwas, was es meiner Meinung nach viel mehr geben sollte.“

Die Job-Aussichten für plural ausgebildete VolkswirtschaftlerInnen in Ministerien, bei der EZB und zivilgesellschaftlichen Organisationen seien sehr gut, sagt Professor Nils Goldschmidt, „aber das Handwerk der klassischen Ökonomie sollte sitzen, bevor man in die Kritik des Systems einsteigt. Darum bieten wir in Siegen bisher nur einen Master an, sagt Goldschmidt.

Absolvent Marius Ewert geht der Wandel in den Wirtschaftswissenschaften allerdings zu langsam: „Es sind immer noch viel zu wenige plurale Angebote in der Universitäten-Landschaft“, sagt er, bisher würden sich vor allem kleine Hochschulen mit den vielfältigeren, kritischeren Wirtschaftswissenschaften schmücken. „Viele Studierende kommen mit wichtigen Fragen an die Uni – und werden dort ausgebremst“, sagt Ewert. Er wünscht sich eine Repolitisierung der Wirtschaftswissenschaften, eine wissenschaftliche Forschung, die der Frage nachgeht, wie man wirtschaftliche Strukturen so gestaltet, dass sie den am stärksten diskriminierten Menschen in der Gesellschaft dienen. Bis es soweit ist engagiert Ewert sich beim Netzwerk für Plurale Ökonomik und bei den Economists for Future für den Wandel in seinem Fach. „Manchmal fühlt es sich an, als würde man gegen Windmühlen kämpfen. Aber ich bin sicher, dass ein grundlegendes Umdenken in den Wirtschaftswissenschaften kommen wird – und an diesem Umbruch will ich mitwirken.“

Mehr zum Thema

MEHR BEITRÄGE