Josef Settele ist einer der drei Co-Vorsitzenden des Weltberichts zum globalen Zustand der Natur. Für das Greenpeace Magazin 5.22 haben unsere Reporter:innen ihn zum Outdoor-Interview getroffen, darin spricht er über die Lage der Arten, Deutschlands Verantwortung und die Hoffnung auf den Weltnaturgipfel

Als Treffpunkt hat Josef Settele die Brandberge vorgeschlagen, ein hügeliges Naturschutzgebiet am Stadtrand von Halle an der Saale. Der Schmetterlingsforscher genießt es, im Grünen zu sein, und freut sich über den ersten Schachbrettfalter des Jahres, über Große Ochsenaugen und Kleine Wiesenvögelchen. Zum Interview setzt er sich im Schatten einer Hecke auf einen mitgebrachten Klapphocker.

Herr Settele, gibt es einen Schmetterling, den Sie vermissen?
Ja, die Berghexe. Es gab sie früher in diesem Gebiet, aber sie starb vor 15 Jahren aus. Und den Hellen Wiesenknopf-Ameisenbläuling, den ich seit 1989 in der Pfalz erforsche. Seine Raupe lässt sich von Ameisen in deren Nest tragen und frisst dort die Brut – brutal und faszinierend zugleich. Er hat genau eine Ameisenart als Wirt, und nun steht er kurz davor, auszusterben. Das finde ich traurig. Diese Art hat sich über Millionen von Jahren entwickelt, sie ist hoch spezialisiert. Und wir erlauben uns, sie einfach so zu beseitigen.

Warum ist es schlimm, wenn eine Art ausstirbt?
Arten sind immer ausgestorben. Es ist nicht die Frage des Ob, sondern des Wieviel. Historisch lag der Verlust bei 0,1 bis zwei von einer Million Arten pro Jahr. Jetzt hat die Aussterberate die hundert- bis tausendfache Geschwindigkeit. Die Frage ist also: Ist es schlimm, wenn das so viel schneller wird? Hinzu kommt die ethische Frage: Wie sollen wir rechtfertigen, dass wir Arten ausrotten? Die Artenvielfalt ist das Erbe der Natur und auch der Kultur. Wir sind, glaube ich, verpflichtet, das zu erhalten.

Gibt es auch unwichtige Arten?
Das wissen wir immer erst, wenn es zu spät ist. Manchmal scheint es, als sei eine Art einfach nur da. Verändert sich aber das System, beispielsweise im Klimawandel, wird Anpassung nötig, und die Art kann wichtig werden. Einer Art Unwichtigkeit zu unterstellen, ist also gewagt. Es gibt diesen Vergleich mit den Nieten eines Flugzeugs: Zwei, drei Nieten, die rausfallen, sind egal. Das Ding fliegt trotzdem. Aber irgendwann fällt es auseinander. Und mit jeder Niete steigt die Wahrscheinlichkeit.

Wie ernst ist die Lage denn?
Wir als Weltbiodiversitätsrat IPBES haben 2019 in unserem Report diese Zahl genannt: Eine Million von geschätzten acht Millionen Arten auf der Erde werden in den nächsten Jahrzehnten aussterben – wenn wir nicht gegensteuern. Das impliziert immerhin auch, dass wir noch umlenken und die meisten Arten erhalten könnten.

Was blüht uns, wenn das Aussterben so weitergeht?
Dann blüht uns weniger (lacht). Wir werden völlig veränderte Ökosysteme haben. Wenn etwa der Wasserkreislauf am Amazonas durch Erderhitzung und Abholzung zusammenbricht, entsteht dort ein anderes System, vielleicht eine Savanne mit viel weniger Arten. Das kann funktionieren. Die Natur kommt schon klar. Allerdings würde eine Savanne viel weniger Kohlenstoff speichern und klimatisch viel weniger ausgleichen. Für uns wäre das negativ.

Es geht um unsere Existenz?
Letztlich ja, aber nicht nur um die nackte Existenz, sondern auch um das, was wir Human Wellbeing nennen, unser Wohlbefinden. Man kann leben, aber man kann auch dahinkrebsen.

Wohlbefinden. Wozu brauchen wir die Artenvielfalt noch?
Wir sind Teil der Natur. Alles, was wir essen, ist Biodiversität. Jede Kulturpflanze ist der Natur entnommen. Oder nehmen wir die Bestäubung. Die Obstsorten verlören ohne Bestäubung vierzig bis neunzig Prozent des Ertrages. Es gäbe mickrige Exemplare, ein paar Erdbeeren würden vor sich hinschrumpeln. Das hätte aber eine andere Qualität, auch einen anderen Gehalt an Vitaminen. Fast alles außer dem windbestäubten Getreide ist von Tierbestäubung abhängig. Ohne Insekten ginge da wenig. Und das ist nur ein Beispiel. Letztlich geht es um unsere Lebensgrundlagen.

<p>Josef Settele hat ein Schachbrett gefangen und nummiert es mit einem wasserfesten Stift. Durch Wiederfänge erforscht er Bewegungsmuster.</p>
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Josef Settele hat ein Schachbrett gefangen und nummiert es mit einem wasserfesten Stift. Durch Wiederfänge erforscht er Bewegungsmuster.

 

Arten- und Klimakrise werden auch als Zwillingskrisen bezeichnet. Warum hat die Artenkrise keine Greta Thunberg, warum gibt es kein Fridays for Frogs?

So etwas gibt’s natürlich. Extinction Rebellion kommen aus dieser Ecke, das sagt das Wort Extinction ja schon.

Es gibt aber keine Massendemonstrationen gegen das Aussterben.

Das Thema ist lange auf der Agenda, blieb aber immer ein bisschen am Rande. Der Weltklimarat IPCC wurde 1988 gegründet, den Weltbiodiversitätsrat IPBES gibt es erst seit 2012.

Beim Klima konnte man sich in Paris auf 1,5 Grad einigen. Bei der Biodiversität gibt es nicht die eine Messgröße. Ist das Thema schwerer zu fassen?
Klar, es ist unfassbar. Wörtlich gemeint. 1,5 Grad sind ein klarer Wert. Aber was bedeutet es, wenn ich sage, ich möchte den Rückgang von Arten reduzieren? Wir wissen gar nicht genau, wie viele Arten da genau sind. Es wird geschätzt, dass wir mehr als hundert am Tag verlieren, solange wir hier sitzen, sind es schon fünf oder zehn. Das klingt schockierend. Trotzdem ist das Aussterben eine stille Krise und für viele abstrakter als eine Hitzewelle im Sommer.

War nicht der große IPBES-Bericht von 2019 mit dieser Zahl, eine Million Arten, ein Wendepunkt?
Ich bin natürlich in einer Blase, ich habe ja daran mitgeschrieben. Aber es stimmt, seitdem gebe ich fast täglich ein Interview zum Thema. Eine Million, die Zahl hat wirklich etwas ausgelöst. Übrigens auch in der Politik. Ich bin von fast jeder Fraktion im Bundestag schon als Experte eingeladen worden. Nur die AfD hat noch nie gefragt.

Dabei wollen die doch die Heimat bewahren.
Genau. Ich verwende ganz häufig „Heimatverbundenheit“ als Argument für den Naturschutz. Wir haben das für die deutsche Fassung unseres Berichts lange diskutiert. Schließlich war klar: Wir wollten dieses Thema nicht anderen überlassen. Heimat spielt eine Rolle. Wenn wir gucken, wie wir Landschaft empfinden, was ist die Basis? Caspar David Friedrich, Bäume, Kühe? Wo man herkommt, das findet man schön. Und wenn sich das verändert, geht etwas verloren.

Ende des Jahres steht der Weltnaturgipfel in Montreal an, das Pendant zum Weltklimagipfel. Eigentlich war er schon für 2020 im chinesischen Kunming geplant. Wegen Corona wurde er oft verschoben und nun auch noch nach Kanada verlegt: Welche Bedeutung hat diese Konferenz?
Sie ist essenziell. Ich erhoffe mir von dem Gipfel so etwas wie einen Paris-Moment fürs Klima – einen Kunming-Moment der Biodiversität. Wir brauchen weltweit verbindliche Regeln und Ziele. Und sie müssen einklagbar sein.

Von den zwanzig Zielen zum Schutz der Biodiversität, die 2010 im japanischen Aichi beschlossen wurden, wurde keins erreicht. Weder wurden umweltschädliche Subventionen beseitigt noch der Verlust von Lebensräumen gebremst oder Pestizide reduziert. Warum sollte es diesmal klappen?
Einige Aichi-Ziele wurden teilweise erreicht, aber keins vollständig, das stimmt. Doch seitdem hat sich die Stimmung weltweit gewandelt. Ob das ausreicht, ist eine andere Frage.

Die Staaten der Welt wollen beschließen, bis 2030 dreißig Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz zu stellen. Das klingt ehrgeizig.
Viele meiner Kollegen halten fünfzig Prozent für nötig. Dreißig Prozent, wenn es denn wirklich dazu kommt, fände ich dennoch überraschend viel. Natürlich denkt der normale Mensch da an Totalreservate. Das ginge in Deutschland gar nicht. Wir haben nicht einmal ein Prozent Wildnis, dafür viel Kulturlandschaft, die in Koevolution mit dem Menschen entstanden ist und Vielfalt beherbergt. Wenn wir Naturschutzgebiete und die Fauna-Flora-Habitat-Gebiete nehmen, sind das zusammen etwa zwanzig Prozent von Deutschland. Diese Gebiete gibt es also zu einem recht großen Teil schon, sie müssten nur gut gemanagt und wirklich nachhaltig genutzt werden.

Es wäre natürlich eine faszinierende Vorstellung: Dreißig Prozent der Fläche der Welt sind streng geschützt. Aber das ist gar nicht gemeint?
Nein. Und wir haben diese Flächen sowieso fast nirgends. Die Idee einer menschenfreien Natur, die oft damit einhergeht, ist immer schon obsolet gewesen. Als die US-Amerikaner ihre Nationalparks gegründet und dort die Indigenen rausgejagt haben, war das Kolonialismus pur. Menschen waren und sind überall ein Faktor im System. Wir in Deutschland haben seit Hunderten von Jahren eine stark durch Menschen geprägte Landschaft. Aber auch im Amazonas gibt es eine indigene Bevölkerung und einen kulturellen Umgang mit Natur. Wir haben letztlich überall eine Mensch-Natur-Kombination. Totalreservate? Klar stellt man sich das toll vor: Ich habe irgendwo im Pazifik eine artenreiche Insel komplett geschützt. Klasse! Aber auch dort leben wahrscheinlich Menschen. Die Frage ist, wie man den Kompromiss hinbekommt für eine Umwelt, in der Natur und Mensch keine Gegenspieler sind, sondern gemeinsame Akteure.

Mit dem Kescher erhascht Settele einen Schmetterling. Der Forscher ist immer noch regelmäßig „im Feld“

Mit dem Kescher erhascht Settele einen Schmetterling. Der Forscher ist immer noch regelmäßig „im Feld“

Es gibt im Vorfeld von Kunming genau diese Befürchtung des Neokolonialismus, dass Naturschutz mal wieder ohne die Indigenen gemacht werden soll.
Wir hatten für den IPBES-Bericht von 2019 Workshops mit ganz verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen weltweit – in der Arktis, in thailändischen Berggebieten, in Amazonien. Einige von uns Autorinnen und Autoren haben mit ihren Vertretern Zeit verbracht und geredet. In den Report ist viel lokales Wissen eingeflossen. In anderen Ländern gibt es mehr Wildnis, klar. Aber auch dort müssen die Menschen ihre traditionellen Nutzungsrechte behalten. Das ist ganz wesentlich.

Ist Deutschland im Kunming-Prozess ein Vorbild? Immerhin haben wir bis Ende des Jahres die G7-Präsidentschaft inne.
Dass Deutschland vorangeht, ist essenziell. Wenn es selbst einem reichen Land nicht gelingt, da etwas zu erreichen, wie sollen die anderen das schaffen? Wir können es uns gar nicht leisten zu versagen. Und zumindest vor dem Ukrainekrieg waren die Voraussetzungen für ein starkes Signal aus Deutschland nicht schlecht. Wir haben endlich eine Regierung, von der man erwarten kann, dass sie in zusammenhängenden Ministerien gemeinsam denkt. Umwelt, Landwirtschaft, Klima: alles in einer Hand. Gut, wie das FDP-geführte Finanzministerium da mitspielt, muss man sehen.

Was meinen Sie?
Es geht auch darum, wie viel Geld Deutschland beisteuert, um den Biodiversitätsschutz in Ländern des globalen Südens mitzufinanzieren. Ohne solche Mittel wird es keinen Vertrag von Kunming geben. In Vorverhandlungen zur Konferenz standen einmal sieben Milliarden Euro jährlich als deutscher Beitrag im Raum. Das fanden einige viel. Ich nicht. Allein die Flut im Ahrtal hat dreißig Milliarden verschlungen. Da sind sieben Milliarden für die Rettung der Biodiversität der Welt doch nicht viel!

Im Jahr.

Trotzdem. Wenn man die Konsequenzen des Unterlassens durchrechnet, sei es im Klima- oder im Artenschutz, kommt man sofort auf ganz andere Beträge – eine riesige Hypothek auf die Zukunft. Und das begleicht dann die nächste Generation. Damit müsste man Herrn Lindner doch einfangen können.

Viele Schutzgebiete in Deutschland sind Naturparks und Biosphärenreservate mit Nutzungszonen. Dort gibt es teils normale Landwirtschaft. Wäre nicht ein Pestizidverbot sinnvoll?
Es gibt Kulturen, im Obstbau zum Beispiel, wo es schwierig ist, ohne Pestizide Ertrag zu erzielen. Ich wäre vorerst auch mit siebzig Prozent Reduktion zufrieden. Eine Studie in Frankreich hat vor Jahren ergeben, dass es bei siebzig Prozent weniger Insektiziden immer noch annähernd gleiche Erträge gab. Bei Herbiziden und Fungiziden war es nicht ganz so frappierend. Aber gerade Insektizide kann man gut runtersetzen.

Es wird oft argumentiert, wir hätten nicht genug Platz, um extensiv zu wirtschaften, weil wir für gleiche Erträge viel mehr Fläche bräuchten und so die Welt nicht ernähren könnten.
Ja, weil wir viel zu viele Tiere essen. Nicht, dass wir sie nicht brauchen würden! Natürlich brauchen wir auf Grünland Kühe, die das Gras fressen, das wir selbst nicht verdauen können. Aber es ist eine Frage der Klasse, nicht der Masse. Wenn wir ein Ernährungssystem hätten, das sich in der Nahrungskette weiter unten ansiedelt, also weniger auf Fleisch basiert, dann wäre vieles einfacher. In Deutschland nutzen wir sechzig Prozent der Ackerflächen für Viehfutter, wir könnten einen Teil der Erträge direkt essen. Dann hätten wir mehr Platz für Naturschutz – und für den brauchen wir mitunter auch Weidetiere. Und schon wäre der ganz grundsätzliche Widerspruch zu einem guten Steak aufgelöst: Auch ich grille ganz gerne mal Fleisch. Wie gesagt: Klasse statt Masse.

Und die wachsende Weltbevölkerung entwickelt auch immer mehr Appetit auf Fleisch. Global steuern wir in die entgegengesetzte Richtung.
Immerhin wächst die Weltbevölkerung nicht mehr so schnell. Wenn es uns gelingt, die nächsten fünfzig, sechzig Jahre zu überdauern, können wir auf eine gute Zukunft hoffen. Darum machen wir momentan Sachen, die eigentlich nur Symptome mildern. Wenn ich eine kleine Fläche erhalte, nur um eine Art zu schützen, dann baue ich dieser Art ein Wolkenkuckucksheim. Das ist absurd. Aber ich kann es machen – in der Hoffnung, dass sich die Systeme insgesamt wieder so entwickeln werden, dass diese Art auch ohne Hilfe überleben kann. Ich bin überzeugt, dass wir ihr über diesen Flaschenhals hinweghelfen müssen.

Man baut der Art eine Arche und hofft auf bessere Zeiten?
Ja, aber der Schutz einzelner Arten wird das System nicht retten. Dessen muss man sich bewusst sein. Es braucht eine Transformation der Art und Weise, wie wir Land nutzen, uns ernähren, konsumieren – unserer ganzen Lebensweise.

Man kann hoffen, dass wir schnell genug sind, dass zum Beispiel der Wasserkreislauf im Amazonas nicht zusammenbricht. Aber es spricht vieles dafür, dass die Transformation nicht schnell genug geht.
Das ist so. Wir werden mehr Leute mitnehmen, wenn die Katastrophen größer werden. Die Frage ist, ob das noch schnell genug sein wird. Aber wie kommuniziere ich so etwas? Bei Horrorszenarien machen die meisten Leute bekanntermaßen irgendwann die Schotten dicht. Man muss sie anders erreichen. Alarm schlagen, ohne alarmistisch zu sein.

Sie wirken optimistisch. Wie schaffen Sie das?
Ich bin Biologe und sage mir: Die Natur wird sich anpassen und spannend weiterleben. Die Frage ist nur: Welche Rolle spielen wir dabei noch?

Dieses Interview erschien in der Ausgabe 5.22 „Artenvielfalt“. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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