À la Saison

Wohliger Wirsing

In der Hauptrolle herausragend: Brassica oleracea convar. capitata var. sabauda hat seinen eigenen Geschmack, seinen eigenen Kopf – und ist unser Gemüse der Saison

© Klaus WillenbrockWohliger Wirsing© Klaus Willenbrock

„Als Hauptgericht hat es nur Gemüse gegeben.“ Mit diesem Vorwurf an die Küche beginnt Thomas Mann seine Novelle „Unordnung und frühes Leid“ – und präzisiert sogleich verächtlich: „Wirsing-Koteletts“. Als Nachtisch, immerhin, folgt ein Flammeri, ein Pudding. Allerdings schmeckt dieser aufgrund der Pulver, „die man jetzt kauft“, nicht nur nach Mandeln, sondern leider auch nach Seife. Thomas Mann reichen drei Zeilen. Und schon ist das Mittagsmahl aus gebratenem Kohl abserviert.

Wir befinden uns im München des Jahres 1923, großbürgerliches Milieu. In einer fiktiven Vorstadtvilla, die erkennbar an die Villa der Manns erinnert, lebt eine Familie, die erkennbar der Familie Mann gleicht, nur dass ihr Oberhaupt nicht Schriftsteller,sondern Professor ist. Durch die Republik tobt die Hyperinflation. Eier kosten im Sonderangebot 6000 Mark das Stück. Das leidlich angepasste Millionengehalt des Professors reicht noch für den privaten Telefonanschluss. Aber die Kinder gehen als „Villenproletarier“ in „abgetragenen und  gewendeten Kleidern“. Die Preise sind aus den Fugen, die Welt ist es auch. Wer bitte soll sich da noch Koteletts aus richtigen Tieren leisten?

Wir lernen: Vor hundert Jahren mag manches in Unordnung gewesen sein. Aber zumindest gab es kein Billigfleisch. Wem das Kotelett zu teuer wurde, der haute – wenngleich unter Wehklagen – stattdessen den Wirsing in die Pfanne. Die Geringschätzung des von Abstiegs ängsten geplagten Bürgertums allerdings hat das gesunde frostfeste „Arme-Leute-Essen“ nicht verdient.

Wie alle Arten der weitläufigen Kohlsippe wurzelt auch Brassica oleracea convar. capitata var. sabauda im wilden Meerkohl, der Stammvater so unterschiedlicher Gewächse wie Brokkoli, Rosenkohl und Rotkohl ist. Der Wirsing-Beiname „Welschkraut“ verdankt sich seiner fremdländischen Herkunft aus Norditalien. Dort, im einstmaligen Savoyen, ging er aus einer Kreuzung von Weiß- und Palmkohl hervor und gedieh ab Mitte des 16. Jahrhunderts als englischer savoy cabbage, französischer chou de Milan oder schweizerischer Wirz auch in Gärten nördlich der Alpen. Der deutsche Name des krausen Kreuzblütlers ist dem italienischen verzo oder cavolo verzotto entlehnt, das wiederum auf den lateinischen Begriff viridia zurückgeht: grüne Gewächse.

So satt dieses Grünzeug selbst im Herbst und Winter leuchtet, so wenig grasig sind seine Aromen. Mild und nussig mundet der Wirsing. Im Gegensatz zu deftigeren Kohlverwandten braucht er weder salzige noch saure Partner wie Speck oder Apfel. Er ruht in sich. Im schlanken Gemüseeintopf mit Kartoffeln, Karotten und einer Idee Kümmel fühlt er sich ebenso wohl wie im französischen Pot-au-feu mit Fleisch. Rahm und Muskat betonen seine Stärken aufs Cremigste. Und da er gut mit Nüssen kann, schmeckt anstelle von Sahne auch Mandelmus. Dank seiner Blattstruktur verschmilzt Wirsing geradezu mit jedweder Soße. Mit Curry etwa verbindet er sich zu einer süß-scharfen Wohltat aus dem Wok. Und auch zur Roulade gerollt macht er bella figura.

Im fränkischen Bamberg, bekannt für Gartenliebe und Genuss, musiziert seit vielen Jahren die Hiphop-Crew „Bambägga“. Sie hat ihrer Heimatstadt eine Hymne gewidmet: „Fühle diesen Ort zwischen Wu-Tang und Wirsing!“ – Okay, eigentlich klingt es in dem Song eher wie „Wirsching“. – „Spüre den Groove zwischen Wu-Tang und Wirsching!“ Im Video dazu tanzen die Rapper mit Oma durchs Wirtshaus. Thomas Mann hatte recht: Als Fleischersatz taugt der Wirsing nichts. Als Wirsing aber ist er unschlagbar. Mancherorts heißt er auch Herzkohl. Es scheint ein ganz passender Name zu sein – für ein Vollblutgemüse.

Wirsing-Gemüse mit Nüssen

Ein Rezept von Karin Midwer

Für 4 Portionen
1 kleiner Wirsingkohl, 1 Zwiebel, 2 Möhren, 1 Stange Lauch, 2 EL mildes (Oliven-)Öl, 200 ml Sahne, 1/2 – 1 TL Kreuzkümmel, 1 TL getrockneter Thymian, Pfeffer, Salz, 50 g Wal- oder Haselnüsse, 50 g Parmesan oder Pecorino

Vom Wirsing die äußeren Blätter ablösen. Den Wirsing vierteln, seinen Strunk entfernen und die Blätter in feine Streifen schneiden, gründlich waschen und abtropfen lassen. Zwiebel schälen und fein würfeln. Möhren putzen und in dünne Scheiben schneiden. Lauch waschen und in feine Ringe schneiden. Öl in einem Topf erhitzen, Zwiebelwürfel, Wirsing und Lauch darin anschwitzen. Möhren, Kreuzkümmel, Thymian und ein halbes Glas Wasser zugeben. 10 Minuten dünsten. Sahne zugeben und kurz aufkochen lassen. Mit Pfeffer und Salz abschmecken. Nüsse grob hacken und in einer Pfanne ohne Fett vorsichtig anrösten. Käse reiben. Das Gemüse mit einem Topping aus Nüssen und Käse servieren. Dazu passt ein feines Kartoffelpüree.

Und sonst so?

Neu im Oktober:
Quitte, Schwarzwurzel und Winterrettich

Neu im November:
Grünkohl

Weiter frisch und regional:
Apfel, Birne, Blumenkohl, Feldsalat, Lauch, Rote Bete, Schwarzwurzel und vieles mehr

© Klaus WillenbrockWohliger Wirsing© Klaus Willenbrock

Mehr zum Thema

MEHR BEITRÄGE