Hoch oben an der alpinen Baumgrenze lebt ein schöner Vogel, der „superintelligent“ ist und „wahnsinnig effizient“, wie die Biologin Eike Lena Neuschulz sagt: der Tannenhäher. Dort oben wächst auch ein knorriger, bis zu tausend Jahre alter Baum, mit dessen Zapfen man Schnaps aromatisieren oder deren Samen man als Nahrung nutzen kann: die Zirbelkiefer. „Beide haben eine ganz enge Beziehung“, sagt  Neuschulz. „Der Tannenhäher frisst das ganze Jahr nichts anderes als Zirbelsamen. Und der Baum ist ganz darauf angewiesen, dass der Vogel seine Samen verbreitet.“

© Carsten Raffel© Carsten Raffel

Seit neun Jahren untersucht die Senckenberg-Forscherin die Krähenvögel mit dem weiß getupften Gefieder. In den Archiven des berühmten Naturmuseums in Frankfurt liegen teils uralte präparierte Vögel aus ganz Eura sien, deren variable Schnabelform sie mithilfe von 3D-Scans am Computer analysiert. Am liebsten aber reist sie in die Schweiz, um das Verhalten der Vögel in der Natur zu beobachten. Vor allem deren „supergutes“ räumliches Gedächtnis interessiert sie.

Die Zirbelkiefer, auch Zirbe oder Arve genannt, trägt nämlich nur im August und September rund sechs Wochen lang Zapfen. In dieser Zeit legen die Häher sich Vorräte für den Rest des Jahres an. „Sie sind dann superbeschäftigt“, sagt Neuschulz. Wie im Akkord ernten sie die harten Zapfen, „meißeln“ sie mit ihren kräftigen Schnäbeln auf, wozu kein anderes Tier in der Lage ist, und verstecken die Kerne.

In Zahlen: Bis zu achtzig Samen kann ein Häher in seinem Kropf speichern. Mehrmals pro Stundefliegt er bis zu zehn Kilometer weit, um eine Ladung zu verstecken, wie Neuschulz und ihr Team mithilfe von GPS-Sendern herausgefunden haben. Am Ziel versenkt er die Samen  schnabeltief im Boden, rund fünf Stück pro Versteck, das mit ein bisschen Moos bedeckt wird, dann hüpft er weiter. „Etwa 100.000 Zirbelkiefersamen verteilt ein Tannenhäher so im Jahr.“

„Das wären ... 20.000 Verstecke?“

„Ja“, sagt die Forscherin. „Aber trotzdem finden sie rund achtzig Prozent der Samen wieder, Eichhörnchen sind Schussel dagegen. Und was ich besonders faszinierend finde: Sie orientieren sich dabei an Bäumen, Grasbüscheln oder Steinen – aber die Landschaft dort oben sieht ja im Winter ganz anders aus!“ Selbst im Tiefschnee spüren die Vögel ihre Vorräte auf, indem sie bis zu anderthalb Meter lange Tunnel graben.

Die Erforschung der Häher-Zirbel-Beziehung ist spannend – und nützlich. Früher wurden die Vögel in den Alpen mit der Flinte dezimiert, da sie ja die Samen der Bäume fraßen, deren Holz für Möbel und Schnitzereien begehrt ist. Bis man lernte, dass sie deren Nachwachsen garantieren. Heute ist die Zirbelkiefer durch Abholzung bedroht – und durch den Klimawandel.

Forstwirte fürchten nämlich, dass die langsam wachsende Baumart von Fichten verdrängt wird, die infolge der Erwärmung höhere Lagen erobern. Nun ist die Frage: Können die Häher den Zirben beim Aus weichen Richtung Gipfel helfen? „Meist bringen sie die Samen talwärts, an Orte, die für die Keimung nicht optimal sind“, sagt Neuschulz. „Aber ab und zu landet eben doch einer weiter oben.“ Ob das reicht, den Zirbelkiefern ihren Weg in höher liegende Gefilde zu bahnen? Ein kniffliges Forschungsthema.