„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.“ Dieser Satz des deutschen Philosophen und Revolutionärs Karl Marx ist weltberühmt und wurde gerade in diesem Jubiläumsjahr rauf- und runterzitiert. Weitaus seltener Thema waren seine Thesen über Naturzerstörung und Umwelt, die er in seinen Überlegungen zu „Erde“ und „Stoffwechsel“ entwickelt hat. Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski findet das schade. Denn auch wenn Marx seine Gedanken zur Kritik der politischen Ökonomie bereits im 19. Jahrhundert niederschrieb, erklären sie nicht nur aktuelle Phänomene wie Globalisierung oder die sich verschärfende Ungleichheit sehr präzise, sondern zeigen auch, inwiefern die Ausbeutung von Mensch, Natur und Umwelt einer kapitalistischen Notwendigkeit folgt.
In der ehemaligen DDR war Kuczynski Wirtschaftsprofessor, die letzten zwanzig Jahre hat er sich intensiv mit dem ersten Band des Kapitals auseinandergesetzt. Seine Neuausgabe ist dieses Jahr im VSA-Verlag erschienen. Im Interview mit dem Greenpeace Magazin erzählt der Wirtschaftsexperte, welche Relevanz Marx' Thesen gerade für die aktuelle ökologische Krise und die anhaltende Naturzerstörung haben.
Herr Kuczynski, wegen der beiden Jubiläen – Band 1 des Kapitals wurde vor einem Jahr 150 und Karl Marx wäre diesen Mai 200 Jahre alt geworden – war der deutsche Philosoph in Medien, Ausstellungen und auf Konferenzen so gegenwärtig wie lange nicht. Gibt es denn auch gesellschaftspolitische Entwicklungen, die den Marx-Hype befeuert haben könnten?
Es sind sicherlich vor allem, aber nicht nur die Jubiläen, die eine Rolle bei der ungewöhlich hohen Marx-Rezeption in letzter Zeit gespielt haben. Andere Gründe für eine neue Relevanz von Marx' Denken wären zum einen die Problematik der Ungleichheit, die sich immer weiter verschärft. Während vor fünfzig Jahren das Gehalt eines einfachen Angestellten in einem Verhältnis von 1:20 zu dem eines Vorstandsvorsitzenden stand, liegt es heute bei 1:100. Zum anderen haben die Kapitalisten schon vor zwanzig Jahren gemerkt, dass Marx bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen wie die Globalisierung antizipiert hatte. Im kommunistischen Manifest beschreibt er, wie die Bourgeoisie sich die Welt nach ihrem Bild baut und mit ihren wohlfeilen Preisen als Artillerie selbst die chinesichen Mauern zu Fall bringen wird. Im Prinzip hat sich das 1989 bewahrheitet: Die Mauer ist gefallen und die sozialistische Wirtschaft hat den Wettlauf verloren. In der Analyse des Systemuntergangs zeigt sich die aktuelle Relevanz der Marxschen Thesen.
Gibt es weitere aktuelle Bezüge zu Marx' Gedanken?
Meiner Meinung nach brauchen wir Marx, um die derzeitige ökologische Krise sinnvoll analysieren zu können. Die tieferen Ursachen für die andauernde weltweite Umweltzerstörung zu erkennen, wird ohne seine Wirtschaftstheorie ebenso wenig gehen wie die Entwicklung ökonomisch effektiver Strategien gegen die Umweltzerstörung. Es wird zwar immer behauptet, die Ökologie spiele bei Marx keine Rolle. Das stimmt aber nicht. Zwar lag sein Schwerpunkt bei der Analyse von Kapital und Lohnarbeit. Aber auch wenn die Natur eine untergeordnete Rolle spielte, war Marx natürlich klar, dass ohne sie nichts geht. Und so war Natur bei Marx durchaus ein Thema – nur mit anderen Begrifflichkeiten und nicht so extensiv.
Mit welchen Begriffen von Natur und Umwelt arbeitete Marx?
Natur war für ihn ein philosophischer Begriff. Und was wir heute unter Natur verstehen, das nennt er Erde. Weshalb er auch an einer Stelle im Kapital schreibt, dass die kapitalistische Wirtschaft die Quellen allen Reichtums zerstört – den Arbeiter und die Erde.
Was meint Marx, wenn er vom Stoffwechselprozess zwischen Natur und Gesellschaft redet?
Da orientiert er sich an einer Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert, die besagt, dass Individuen mit ihrer Umwelt in einem Austausch stehen. In dieser Logik produziert und konsumiert der Mensch Güter und Lebensmittel und verbraucht dabei natürliche Ressourcen, die er dann wiederum reproduzieren sollte.
Welche Rolle spielt die Erde, also die natürliche Ressourcen und die Umwelt, bei Marx' Kritik der politischen Ökonomie?
Nehmen Sie zum Beispiel die Regenwälder in Brasilien, die wir immer weiter abholzen. Im klassisch marxistischen Sinn zählen sie ökonomisch nicht. Marx schreibt sogar explizit im ersten Kapitel des Kapitals, dass wildwachsendes Holz keinen Wert hat. Wenn allerdings der Baumstand weltweit so gering wird, dass der Nachschub fehlt und die Regenwälder aufgeforstet werden müssen, dann kostet das Arbeit, die bezahlt werden muss. Und da die Arbeitszeit den Wert einer Ware bestimmt, muss in eine rationale Aufwandsrechnung mit eingerechnet werden, wieviel Arbeitszeit in der Wiederaufforstung des Waldes oder der Reproduktion anderer natürlicher Ressourcen steckt.
Und wie ließe sich der Wert einer Ware bestimmen, wenn wir der Umwelt oder der Reproduktion natürlicher Ressourcen einen ökonomischen Wert beimessen würden – so wie Sie das für eine aktuelle Interpretation des Kapitals anregen?
Bei Marx bestimmt die Arbeitszeit, die in die Produktion einer Ware gesteckt werden muss, den Wert dieser Ware. Das Entscheidende ist, dass nicht vergegenständlichte Arbeit den Wert bildet, sondern aktuell notwendige Arbeit. Lassen Sie mich versuchen, das zu erklären: Heute können wir das wildwachsende Holz nicht mehr als gegeben hinnehmen. Sondern in der aktuellen Situation, 150 Jahre später, sind die natürlichen Ressourcen knapp. Also müssen wir ihnen einen ökonomischen Wert beimessen und der wäre dann – nach Marx – eben die Arbeitszeit, die wir brauchen, um die natürlichen Ressourcen wiederherzustellen. Also für jeden Baum, dessen Holz wir verbrauchen, müssen wir berechnen, wieviel Arbeitszeit es kostet, solch einen Baum wieder anzupflanzen. Und diese dann zum Wert der Ware addieren. Ich glaube, wenn Marx heute das Kapital noch einmal neu schreiben müsste, würde er ein noch viel größeres Augenmerk auf Umweltaspekte legen.
Was sagen Sie zur These, dass Marx' Glauben daran, dass die Geschichte sich durch Fortschritt und Technik positiv weiterentwickelt, gegen den Umweltschutz arbeitet?
Die Kritik zielt im Grunde nicht auf Marx' Fortschrittsgläubigkeit. Dahinter steht die Unterstellung, dass Marx die zerstörerischen Wirkungen der kapitalistischen Wirtschaft und der Technik übersehen hat. Das stimmt so aber nicht. Er hat sehr wohl das Zerstörungspotential des Kapitals erkannt. Und dessen Folgen für Mensch und Natur. In seinem Kapitel über den Kampf um die Länge des Arbeitstags hat er analysiert, dass sich Arbeitsrechte in einem kapitalistischen System danach richten, was aus kapitalistischer Logik opportun ist: Ob Menschen sterben oder Umwelt zerstört wird, ist hierbei nicht relevant, solange diese nicht für den Produktionsprozess gebraucht werden. Damit hat Marx die zerstörerische Kraft des Kapitals beschrieben – für Mensch und Natur.
Sie haben sich in ihrem Leben intensiv mit Marx' und Engels auseinandergesetzt und kürzlich eine Neuausgabe des Kapitals herausgebracht, an der Sie zwanzig Jahre gearbeitet haben. Was fasziniert sie an Marx‘ Werk?
Abgesehen von den vielen interessanten Passagen in seinem Werk, fand ich das Faszinierendste an Marx immer, wie er sich im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik bewegt hat. Er war Ökonom und Revolutionär in Personalunion. Und ich glaube, dass seine politische Tätigkeit ihn in seiner wissenschaftlichen Arbeit stimuliert hat – auch wenn er sich immer wieder darüber beschwert hat, dass die Politik ihm die Zeit für sein Werk stehle.
Was an ihrer Neuausgabe der Kritik der politischen Ökonomie ist anders als bei vorherigen Fassungen?
Ich habe insbesondere Marx' Änderungen für die französische Auflage in die deutsche eingearbeitet, denn da hatte er wichtige Verbesserungen umgesetzt. Zum einen hat er die Verständlichkeit durch einen logischeren Aufbau erhöht. Zum anderen neue wichtige Begriffe eingeführt und differenziert, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Konzentration – es gibt immer mehr Kapital – und Zentralisation – es gibt immer weniger Kapitalisten. Aus beidem folgt einer der Gründe für Marx' aktuelle Relevanz: die Zunahme der weltweiten Ungleichheit. Denn wenn immer größerer Reichtum sich in immer weniger Händen zentralisiert, dann verstärkt das die Ungleichheit zwischen Besitzenden und Arbeitenden.