Frau Diehl, das Auto spielt in der Biografie vieler Deutscher eine zentrale Rolle. Was war denn Ihr erster Pkw?
Gar keiner. Wenn Sie so wollen, war mein erstes Auto der orangefarbene VW Käfer meiner Eltern, in den ich mich übergeben musste, weil ich als Baby und Kleinkind Autofahren nicht so ab konnte. Und später, als ich für ein Logistikunternehmen arbeitete, hatte ich einen kleinen Dienstwagen, einen Toyota Corolla.
Sie kommen im Alltag also ohne Auto aus?
Ich wohne in Hamburg und nutze dort fast immer Rad und Öffis. Carsharing nur selten, dann lieber einen Sammeltaxi-Dienst, weil die Parkplatzsuche wegfällt. Wenn ich aber meine Eltern im Emsland besuche, shuttle ich sie mit dem Familiengolf herum. Eigentlich kann man auch dort alles per Rad erreichen. Meine Mutter ist passionierte Radfahrerin, muss jetzt aber Auto fahren, weil mein Vater Parkinson hat. Unfreiwillig auf das Auto angewiesen zu sein, hat etwas Entmündigendes, vor allem nach einem sehr arbeitsreichen Leben.
Aber das Auto macht ja viele Menschen erst mobil.
Das ist ja das Problem. Es gibt 13 Millionen Erwachsene ohne Führerschein, 13 Millionen Kinder. Macht 26 Millionen Menschen, die nicht automobil unterwegs sind, sondern andere Angebote brauchen. 2021 lebten zudem über 13 Millionen Menschen in Armut. Auch für sie ist das Auto eine Belastung.
Fast 50 Millionen Autos sind in Deutschland angemeldet. Sie haben in den Sozialen Medien den Begriff „Autokorrektur“ geprägt, so auch der Titel Ihres neuen Buches. Was ist ein falsches, was ein richtiges Auto?
Ich möchte keine Autofahrenden aus ihrem Paradies vertreiben. Nur liegt das Paradies schon längst hinter uns. Das Auto wird immer eine Rolle spielen. Und ich fände es ja richtig, wenn ein Golf vier Personen vollelektrisch von A nach B brächte und zuhause mit Solarstrom geladen würde. So ist es aber nicht: Im Schnitt fahren nur 1,3 Personen mit, und das täglich nur 45 Minuten. Den Rest des Tages ist das Fahrzeug ein Stehzeug. Das ist kein gesundes System. Dienstwagenprivileg, Dieselprivileg, Raumprivileg: Wir nehmen es hin. Und warum streben wir nicht die Vision Zero an, also Null Verkehrstote?
Haben Sie eine Erklärung?
Hermann Knoflacher, Verkehrsprofessor und Erfinder der weitgehend autofreien Wiener Innenstadt, sagte einmal, dass wir vom Virus Auto befallen sind. Sobald wir ins Auto steigen, verändern wir uns. Wir gefährden andere, machen Abgase und Lärm. Im Extremfall brettert dann ein Milliardär mit Tempo 417 über die Autobahn. Aber ich merke, dass wir Peak Car erreicht haben, hier und da beginnt der Abbau von Automobilität. In Paris setzt Bürgermeisterin Anne Hidalgo das Konzept der 15-Minuten-Stadt um. Alle Dinge des täglichen Bedarfs sollen zu Fuß oder per Rad in dieser Zeit erreichbar sein. Straßen werden umgewidmet und Tempo 30 eingeführt. Auch Londons Bürgermeister Sadiq Khan will fast ein Drittel weniger Autos – solche Projekte und vor allem konkrete Ziele vermisse ich in Deutschland.
In Ihrem Buch schreiben Sie über den „Maximaleventualbedarfs-Pkw“. Was soll das sein?
Das Auto für jeden noch so unwahrscheinlichen Zweck. Es kann fünf Kinder und einen Ikea-Schrank transportieren, taugt als Wohnmobil für den Italienurlaub und könnte eine Pferdekutsche ziehen. Also alles, was die Leute sich ausmalen, wofür sie ihr Auto vielleicht mal brauchen könnten. Und darum kaufen sie nicht den Kleinwagen, den sie sechs Tage die Woche eigentlich bräuchten, sondern die meist unnütze Riesenkarre.
In den Sozialen Medien haben sie Menschen gefragt, ob sie Auto fahren wollen oder müssen. Was waren die Antworten?
Einige haben erst realisiert, dass sie es müssen. Eine alleinerziehende Ärztin etwa sagte zum Beispiel, dass sie Autofahren hasst, es die Zukunft ihrer Zweijährigen kaputt macht. Aber die Kita, in die sie ihre Tochter vor sechs Uhr morgens bringen kann, ist im Nachbarort und es fährt kein Zug. Sie kann ihren Job nur mit Auto machen, und muss sogar nach einer heftigen 24-Stunden-Schicht noch hinters Steuer. Auch eine Krankenpflegerin erzählte mir, dass sie nicht anders zur Arbeit kommt.
Aber Autos werden doch immer komfortabler?
Für viele ist es eine stressige Art der Mobilität, verlorene Zeit. Sie langweilen sich in Staus, daddeln am Handy, sind genervt. Und es ist ganz schön teuer. Individuell und gesellschaftlich. Einer aktuellen Studie zufolge kostet ein Auto die Allgemeinheit jährlich rund 5000 Euro. Die könnten in Alternativen fließen.
Sie sprachen auch mit Menschen ohne Führerschein, und mit solchen, die sich kein Auto leisten können.
Die werden aus vielen Aspekten des Lebens rausgedrängt. Eine in Armut lebende Mutter erzählte mir, dass der Weg zu einem Kindergeburtstag oder die Fahrt zum Verein eine Riesenhürde sei. Für einen alten Menschen wiederum ist es der Weg zum Arzt. Bei der Stadtplanung wird einfach davon ausgegangen, dass die Leute ein Auto haben. Und wer aktiv verzichtet, wird von seinem Umfeld behandelt, als würde er auf einer Party keinen Alkohol trinken. Wir haben den Zwang zum Auto verinnerlicht.
Auf dem Land geht es ja nicht anders, heißt es immer.
Also dürfen nur Menschen mit Führerschein auf dem Land wohnen? Das wäre doch absurd. Mobilität muss demokratisch gestaltet sein, damit alle am Leben teilnehmen können. Dazu brauchen wir auch auf dem Land einen flächendeckenden, eng getakteten Nahverkehr, sichere Radwege. Wir müssen stillgelegte Provinzbahnhöfe wieder in Betrieb nehmen, Gleise und das Postbus-System reaktivieren. Denn Mobilität ist Daseinsvorsorge. Und es würde allen helfen, wenn wir sie auf Minderheiten und auf die Schwächsten ausrichten. Nicht nur eine schwangere Frau freut sich über eine Bank an der Haltestelle. Und ein barrierefreier ÖPNV drängt auch insgesamt weniger Menschen zum Auto.
Sie unterscheiden zwischen weiblicher und männlicher Mobilität. Was ist der Unterschied?
Ein IG-Metaller aus Bayern nannte es mir gegenüber „Stichverkehr“, was Männer so machen: zur Arbeit und wieder nach Hause. Frauen bringen erst noch die Kinder weg, fahren dann zum Job, kaufen noch ein, schauen nach der Oma – Wegeketten also. Auch Busrouten sind meist strahlenförmig vom Stadtkern ausgehend aufgebaut und ignorieren das.
Wie könnte man mehr Menschen vom Auto unabhängig machen?
Durch Inklusion. Unter Andreas Scheuer saß in den oberen Ebenen im Verkehrsministerium fast nur der gleiche Männertyp. Da wünsche ich mir Vielfalt in den Gremien. Politische Führungskräfte, die auf die Leisen hören. Volker Wissing möchte angeblich keinen Autogipfel mehr machen, bei dem sonst immer der Auto-Lobbyverband VDA und die IG Metall ins Kanzleramt geladen wurden. Nun sollen auch NGOs und Verkehrsunternehmen kommen dürfen – das wäre ein Anfang. Ansonsten steht im Koalitionsvertrag unter Mobilität hauptsächlich etwas übers Auto. Da kommt zwar jetzt Druck durch die Klimakrise drauf, aber mir wäre eine Politik für mehr soziale Gerechtigkeit in der Mobilität lieber.
Was wäre für einen autofreien Alltag wichtig?
Tja, da müssen wir an die Lebensentwürfe ran. Dieses Nine-to-five-im-Büro-Sitzen, das muss weg. Auf dem Land wären Co-Working-Büros denkbar, um Wege in die Stadt überflüssig zu machen. Dann unsere Werte: Warum sind systemrelevante Berufe wie Lokführer und Busfahrerin schlechter bezahlt als Jobs in der Autoindustrie? Und dann die Wirtschaft: Von den Autokonzernen müsste man unabhängig werden, das würde kreatives Know-how für Sinnvolleres freisetzen, für erneuerbare Energien, den Bau anderer Verkehrsmittel. Und das Allerwertvollste sollte uns unsere Zeit sein – die wir etwa im ICE selbstbestimmter verbringen.
Welche Hebel würden Sie persönlich für eine Verkehrswende als erstes in Bewegung setzen?
Zunächst alles auf 1,5 Grad ausrichten, geplante neue Tunnel, Autobahnen und Parkplätze darauf abklopfen. Eine krasse Wende hätten wir übrigens schon, würden wir nur die Straßenverkehrsordnung konsequent durchsetzen: Kontrollpersonal aufstocken, Tempo überwachen, falsch parkende Autos öfter abschleppen. Da würden sich viele wundern.
Katja Diehls Buch stellen wir auch in unserer Medienrubrik „Hören und Sehen“ der Ausgabe 2.22 „Wildnis Wagen“ des Greenpeace Magazins vor. Weitere Geschichten über inspirierende Frauen weltweit, die sich gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und für gerechtere Gesellschaften einsetzen, finden Sie in Heft 6.21 „Yes She Can“ des Greenpeace Magazins. Darin können Sie lesen, wie Frauen an die Schalthebel der Macht drängen, um es anders zu machen und den Wandel voranzutreiben – als Anwältinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Aktivistinnen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!