Liebe Leserinnen und Leser,
2022 – ein annus horribilis, wie die im September verstorbene Queen das Jahr 1992 nannte? Vieles spricht dafür: Russlands Überfall auf die Ukraine, Energiekrise, Inflation, Corona-Folgen, brüchige Lieferketten, die fortschreitende Erderhitzung, eine Weltklimakonferenz mit äußerst dürftigen Ergebnissen. Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!, werden sich viele sagen.
Nicht lange nach dem 24. Februar wurde klar, dass Deutschland sich energiepolitisch von Putin nach allen Regeln der Kunst über seinen sehr, sehr langen Tisch hat ziehen lassen, unter freundlicher Mithilfe der deutschen Energiekonzerne sowie diverser Bundesregierungen. Statt Atomausstieg zum 31.12.2022 und zügigem Abschied von der Braunkohle wurden die Mottenkugeln eilends wieder zur Seite gelegt.
Im März sprach Finanzminister Christian Lindner (FDP) von „Freiheitsenergien“ und meinte die Erneuerbaren, im März fädelte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einen Gas-Deal mit Katar ein. Flüssiggasterminals entstanden in sagenhafter Geschwindigkeit, Abermilliarden flossen und fließen weiterhin in die Erschließung neuer fossiler Energiequellen, statt eines Tempolimits gab es Tankrabatt, und während des extrem heißen Sommers versuchte die Bundesregierung eher halbherzig, die Deutschen schon mal auf einen Energiespar-Winter einzuschwören. Begriffe wie „Gasmangellage“ und „Blackout“ machten die Runde. In der Ostsee rissen Explosionen Löcher in die Nord-Stream-Pipelines. Alles kein Vergleich mit dem, was in der Ukraine tagtäglich geschieht.
Jammern und Klagen führt aber leider nur zu Stirnfalten und schlechter Laune, und da ich zufällig nebenberuflich im Silberstreifengeschäft arbeite, möchte ich Sie ungern ohne einen solchen ins neue Jahr verabschieden. Denn ein paar gar nicht mal so kleine energetische und klimapolitische Lichtblicke gab es tatsächlich auch.
An den Sommerhit des Jahres erinnern Sie sich bestimmt: das 9-Euro-Ticket, mit dem man im Juni, Juli und August kreuz und quer durch Deutschland gondeln konnte. Da ließen sich viele nicht zweimal bitten. 52 Millionen Tickets wurden verkauft, 1,8 Millionen Tonnen CO2 eingespart.
Mit leichter Verspätung verabschiedete der Bundestag am 7. Juli das sogenannte Osterpaket, ein ganzes Bündel energiepolitischer Maßnahmen. Unter anderem soll die Stromversorgung bis 2035 fast ausschließlich aus erneuerbaren Energien kommen.
Deutschland allein kann den Klimawandel nicht aufhalten, aber auch anderswo geschahen interessante Dinge: Ende Mai wurde in Australien der konservative Premierminister Scott Morrison, ein knallharter Klimaleugner, abgewählt. Sein sozialdemokratischer Nachfolger Anthony Albanese hatte den Klimawandel zum Wahlkampfthema gemacht und versprach nach seinem Sieg, das Land (dessen Pro-Kopf-Emissionen an Treibhausgasen höher liegen als die der USA) zu einer „Supermacht der erneuerbaren Energien“ zu machen.
US-Präsident Joe Biden seinerseits ließ sich auch nicht lumpen: Mit dem Inflation Reduction Act sollen 369 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien fließen (aus europäischer Sicht allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass bei dem Konjunkturprogramm nur amerikanische Firmen zum Zuge kommen sollen – Europa fühlt sich ausmanövriert, Beratungen und Verhandlungen sind im Gange). Ende Oktober gewann in Brasilien Lula da Silva knapp die Präsidentschaftswahl. Er hat versprochen, dem Klimaschutz Priorität einzuräumen und die illegale Abholzung des Regenwaldes zu stoppen.
Im November kehrte Deutschland wie zuvor schon Italien, Polen, Spanien, die Niederlande, Frankreich und Slowenien der Energiecharta den Rücken. Weil sich für eine Änderung des umstrittenen Vertragswerks keine Mehrheit findet, steht es vor dem Aus. Es sichert die Investitionen der fossilen Industrien und erlaubt es etwa Atom- und Kohlefirmen, Regierungen bei einem Ausstieg aus diesen Energien auf hohe Entschädigungssummen zu verklagen. Kurz vor Jahresende beschloss die EU noch einen Klimazoll, der für Produkte erhoben werden soll, wenn asiatische oder amerikanische Hersteller nicht für den Ausstoß von Treibhausgasen zahlen mussten.
Und schließlich – Tusch! Fanfare! – lockert Bayern seine strenge Abstandsregelung für Windräder. Muss man da nicht Hoffnung schöpfen und an eine Zeitenwende glauben? „Zeitenwende“ wurde vergangene Woche zum Wort des Jahres erkoren und schlug Konkurrenten wie Gaspreisbremse und Doppelwumms aus dem Felde. Glück gehabt, es hätte ja auch die, Achtung, Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung, kurz EnSikuMaV, werden können.
Ob 2022 nun grottenschlecht oder doch ganz ordentlich war, hängt für jede und jeden Einzelnen natürlich auch von der persönlichen Situation ab. Mögen die Zeiten sich 2023 für alle und auf allen Ebenen zum Guten oder wenigstens zum Besseren wenden.
Sofern Sie über die Feiertage ein bisschen Muße haben, werfen Sie doch mal einen Blick in diese Erzählungen zum Klimawandel von A-Z aus dem New Yorker. Sie lassen sich auch gut häppchenweise lesen. Sollte Ihnen eher nach Herzerwärmendem zumute sein, dann versuchen Sie es mal hiermit.
Wir lesen uns dann irgendwann im neuen Jahr wieder. Kommen Sie gut rein. Geht auch ohne Böller und Raketen.
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Kerstin Eitner
Redakteurin
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