Anlässlich des Weltfrauentags veröffentlichen wir eine weitere Geschichte unserer Ausgabe 6.21 „Yes She Can" auf unserer Website: Hochrangige Politiker und Konzernchefinnen, die sich massiver Naturzerstörung schuldig machen, sollen in Den Haag des Ökozids angeklagt werden können – dafür kämpfen Rizwana Hasan und Jojo Mehta. Es wäre ein riesiger Erfolg für Umweltschutz und Klimagerechtigkeit
In Rizwana Hasans Büro in Dhaka türmen sich die Fallakten, dicke Bände mit den Urteilen des Obersten Gerichtshofs von Bangladesch stehen in den Regalen. Seit Jahren kämpft die Leiterin des Vereins der Umweltanwälte gegen Öko-Verbrechen in ihrer Heimat. Die 53-Jährige klagte erfolgreich gegen das dreckige Geschäft mit dem Abwracken alter Schiffe. Sie setzte sich gegen den Bau von Kohlekraftwerken nahe der Sundarbans ein, dem größten Mangrovenwald der Welt. Und sie legt sich als Aktivistin mit westlichen Firmen an, die in Bangladesch billige T-Shirts und Jeans produzieren, ohne sich um Umweltschäden durch Chemikalien und den übermäßigen Wasserverbrauch zu scheren. Für ihr Engagement wurde sie mit dem renommierten Goldman Environmental Prize ausgezeichnet; das Time Magazine ehrte sie als Umweltheldin.
Kurz: Die Juristin macht sich dafür stark, dass Umweltschutz nicht nur in Absichtserklärungen von Regierungen und blumigen Nachhaltigkeitsberichten von Unternehmen auftaucht – sondern rechtlich durchgesetzt wird. Als Teil einer weltweiten Strömung will Rizwana Hasan nun mit dem schärfsten juristischen Schwert gegen die skrupellosesten Klimasünder vorgehen: dem internationalen Strafrecht.
„In Bangladesch spüren wir schon lange die Auswirkungen des Klimawandels, obwohl wir im Vergleich zu den Industrieländern nur minimal Treibhausgase emittieren“, beklagt Hasan im Videointerview. Im Jahr 2018 verursachten ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger durchschnittlich 0,56 Tonnen Kohlendioxid, die Deutschen stießen pro Kopf 16-mal so viel aus. Dass die Menschen in anderen Teilen der Welt auf großem Fuß leben, ist für das Land in Südasien, das zu großen Teilen nur knapp über dem Meeresspiegel liegt, eine existenzielle Bedrohung. Hasan rattert die Liste der Umweltprobleme herunter: Aufgrund des steigenden Pegels drückt Salzwasser ins Grundwasser und macht Felder unfruchtbar. Zyklone treffen mit ungebremster Wucht auf Land, auch weil natürliche Schutzbarrieren wie die Mangrovenwälder abgeholzt werden. Die Wirbelstürme führen zur Überflutung immer größerer Gebiete, ein Drittel des Landes könnte im Jahr 2050 sogar dauerhaft unter Wasser stehen. Dabei leben schon jetzt 164 Millionen Menschen auf einem Gebiet nur doppelt so groß wie Bayern.
Deshalb will Hasan den „Ökozid“, die massive Schädigung von Ökosystemen, als fünftes Verbrechen gegen den Frieden in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag aufnehmen – neben Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Völkermord. In Den Haag sitzen normalerweise Massenmörder, Kriegsbefehlshaber und Rebellenführer auf der Anklagebank. Könnten hier auch bald Chefs von Ölkonzernen, Spitzenpolitikerinnen aus Industriestaaten und Finanziers klimaschädlicher Großprojekte Platz nehmen, die durch ihr Handeln – oder Nichthandeln – die Klimakatastrophe anheizen?
Der Begriff Ökozid wurde erstmals im Jahr 1970 im Zusammenhang mit der Zerstörung von Ökosystemen im Vietnamkrieg erwähnt. Die USA setzten damals Agent Orange ein, ein Entlaubungsmittel, das bis heute im Nahrungskreislauf zu finden ist. Seither haben zahlreiche Länder wie Ecuador und vor Kurzem auch Frankreich innerhalb ihrer Grenzen den Ökozid als Verbrechen strafrechtlich festgeschrieben. Im internationalen Recht ist er hingegen noch nicht definiert. Schwere Umweltverbrechen sind hier nur im Kontext von Kriegsverbrechen erwähnt, nicht aber im Rahmen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – und schon gar nicht als unabhängiges Vergehen. Das will Rizwana Hasan ändern. Und hat sich dafür dem weltweiten Bündnis „Stop Ecocide“ angeschlossen.
Absichtlicher oder fahrlässiger Ökozid?
London im Juli 2021: Jojo Mehta hat sich eilig zum Videointerview eingewählt. Sie wirkt etwas gehetzt. Gerade noch war die Gründerin von „Stop Ecocide“ in einem Termin mit britischen Abgeordneten, nun sitzt sie mit zerzausten Haaren in ihrem Wohnzimmer, hinter ihr ein Wäscheständer, die Teenager-Tochter drängelt an der Tür. Vor vier Jahren hat Mehta die Organisation gegründet, zusammen mit der schottischen Anwältin Polly Higgins. „Polly und mich faszinierte die Vorstellung, an die Quelle des Übels zu gehen und Umweltstraftäter persönlich verantwortlich zu machen“, erinnert sich die studierte Anthropologin.
In mittlerweile 15 Ländern, darunter auch Deutschland, treiben ehrenamtliche und fest angestellte Teammitglieder von „Stop Ecocide“ mit Konferenzen, Podiumsdiskussionen und Petitionen ihr Anliegen voran. Wie Hasan wollen Mehta und ihre mehrheitlich weiblichen Mitstreitenden erreichen, dass Verantwortliche aus Wirtschaft und Politik von einem internationalen Gericht strafrechtlich belangt werden können, wenn sie klimaschädlich handeln – und sich nicht mehr hinter dem Vorstandsschreibtisch oder auf der Regierungsbank verstecken können.
Im Juni hat die Initiative nun eine völkerrechtliche Definition von Ökozid vorgeschlagen – ein historischer Moment, wie Mehta sagt. Zwölf hochkarätige Expertinnen und Experten, darunter auch Rizwana Hasan, hatten sechs Monate lang um jedes Wort gerungen. Schließlich einigten sie sich auf eine sehr abstrakte Formulierung: Ein Ökozid liege vor, wenn „rechtswidrige oder mutwillige Handlungen mit dem Wissen begangen werden, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer und entweder weitreichender oder langfristiger Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden“. Was umständlich klingt, könnte die gesamte Rechtsprechung zum Umwelt- und Klimaschutz verändern.
Der große Unterschied zu den anderen völkerrechtlichen Verbrechen: Die Intention ist zweitrangig. Ob Menschen oder Ökosysteme absichtlich ausgelöscht wurden, soll für eine Verurteilung keine Rolle spielen. Es würde demnach ausreichen, wenn Umweltstraftäter die weitreichende Zerstörung von Natur wissentlich in Kauf nehmen oder fahrlässig handeln. „Hätte die angeklagte Person wissen müssen, welche Folgen ihr Handeln hat?“, beschreibt Mehta die zentrale Frage. Wurden etwa Sicherheitsprotokolle nicht eingehalten, Warnungen ignoriert? Auch allgemein zugängliches Wissen der Klimaforschung könnte bei der Beweisführung herangezogen werden. Durch die Attributionsforschung lässt sich immer genauer beziffern, inwieweit extreme Wetterereignisse wie Stürme oder Hitzewellen Folgen des enormen CO2-Ausstoßes sind – und Menschenleben kosten.
Verharmlost der Ökozid den Genozid?
Welche umweltschädlichen Missetaten gelten also als Ökozid? Das Abholzen von Urwäldern, das fahrlässige Herbeiführen eines Nuklearunfalls oder gar die übermäßigen Treibhausgasemissionen eines viel fliegenden Managers? „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, eine Liste von konkreten Beispielen anzuführen“, erklärt Jojo Mehta. „Wer weiß heute schon, auf welche verrückten Ideen Umweltstraftäter morgen kommen?“ Wer angeklagt und verurteilt werden kann, solle der Interpretation der Juristinnen und Juristen am Internationalen Strafgerichtshof überlassen werden. Eines sei jedoch klar: Der Entwurf ziele auf jene ab, die Schaden globalen Ausmaßes anrichteten – nicht etwa auf Familien, die ihren Sommerurlaub auf Mallorca verbringen. „Es besteht keine Gefahr, dass wir plötzlich alle zu Umweltstraftätern werden.“
Anders sieht es bei Menschen mit Macht aus: Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat bereits eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof am Hals – die Anführer zweier indigener Völker werfen ihm vor, den Amazonas-Regenwald zu zerstören und verantwortlich für die Ermordung von Umweltaktiven und Indigenen zu sein. Weil Ökozid jedoch kein Straftatbestand ist, muss die Anklage in ihrer Begründung den Umweg über das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gehen. Ob eine formelle Untersuchung eingeleitet wird, ist noch nicht sicher. Gäbe es den Straftatbestand des Ökozids, würde das den Prozess vereinfachen, ist sich Jojo Mehta sicher.
Die hohen Erwartungen teilen nicht alle: Alexander Proelß, Professor für Umweltrecht an der Universität Hamburg, ist skeptisch, ob der Ökozid in naher Zukunft als Straftatbestand aufgenommen werden kann. Zu viele Hürden seien zu nehmen: Zwei Drittel der 123 Vertragsstaaten des Römischen Statuts müssten zustimmen. Ob genug Staaten im globalen Norden, aus denen vermutlich viele Umweltstraftäter kommen, da mitmachen? Ganz zu schweigen von jenen Ländern, die das Römische Statut bis heute nicht ratifiziert haben – darunter die USA, Russland und China.
Proelß stellt aber noch eine grundsätzlichere Frage: Ist es moralisch angebracht, den Ökozid am gleichen Gerichtshof zu verhandeln wie den Genozid – und damit beide gewissermaßen auf eine Stufe zu stellen? Führt das nicht zu einer Banalisierung der größten Gräueltaten unserer Geschichte? „Sowohl die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als auch der Genozid sind untrennbar mit den Untaten des NS-Staats verbunden“, sagt Proelß. „Meine Sorge ist, dass man durch die Aufnahme des Ökozids diesen einzigartigen Charakter und die besondere Entstehungsgeschichte relativieren könnte.“
Eine Gruppe von Genozid-Forschenden rund um den Globalhistoriker Jürgen Zimmerer teilt diese Befürchtung nicht. Sie formulierte vor einigen Monaten einen Appell, der darauf abzielt, den Genozid-Begriff programmatisch zu erweitern. Denn die Wissenschaft zeige, dass es eine enge Korrelation zwischen Krisen und Gewalt gebe. Wenn Ressourcen oder Land knapp werden, erhöhe das die Wahrscheinlichkeit von Krieg und Gewalt. Die Klimakrise begünstige somit Genozide, Millionen von Toten in den nächsten Jahrzehnten könnten die Folge sein. Ähnlich sieht das auch Jojo Mehta. „Der Vorwurf, dass der Ökozid den Genozid banalisiert, begegnet uns besonders häufig in Deutschland“, sagt sie. „Wir behaupten aber gar nicht, dass es sich bei Ökozid und Genozid um die gleiche Sache handelt. Wir sagen nur: Es ist genauso ernst.“
Ihre Forderung bekommt zunehmend politischen Rückhalt. Von Inselstaaten, die durch die Klimakrise besonders bedroht sind wie die Malediven und Vanuatu, aber auch von Ländern aus dem globalen Norden wie Frankreich, Spanien und Kanada. „Für uns ist es keine Frage, ob der Ökozid Einzug ins Römische Statut hält“, sagt Mehta, „sondern wann es passieren wird.“
In Dhaka rauscht dichter Verkehr an Rizwana Hasans Fenster vorbei, Mopeds und Autos hupen, die 19,5-Millionen-Einwohner-Stadt platzt aus allen Nähten. Steigt der Meeresspiegel wie prognostiziert, würde das in Dhaka und ganz Bangladesch einen Verteilungskampf auslösen – um Ressourcen und Platz zum Leben. Hasan hofft, dass die Ökozid-Kampagne ihren Landsleuten das Überleben sichern wird. Mit ihrem Umwelt- und Menschenrechtsengagement riskiert die Anwältin ihre persönliche Sicherheit – und die ihrer Familie. Vor einigen Jahren wurde ihr Mann entführt und erst 33 Stunden später wieder freigelassen. Trotz der permanenten Bedrohung gibt Rizwana Hasan nicht auf: „Internationale Konzerne haben Top-Anwälte“, sagt sie. „Ich mache weiter, weil auch unsere Erde und die Menschen in Bangladesch Verteidigerinnen brauchen.“
Diesen Artikel finden Sie in unserer bisher weiblichsten Ausgabe 6.21 „Yes She Can“ des Greepeace Magazins. Im Schwerpunkt dreht sich alles um inspirierende Frauen weltweit, die sich gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und für gerechtere Gesellschaften einsetzen. Darin können Sie lesen, wie viele an die Schalthebel der Macht drängen, um es anders zu machen und den Wandel voranzutreiben – als Anwältinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Aktivistinnen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!