Noch lange nicht! In der Ausgabe 1.20 des Greenpeace Magazins „2030“ starten wir unsere Serie über die Haltbarkeit von Lebensmitteln. Diese verderben nicht, sobald ihr Mindesthaltbarkeitsdatum verstreicht. Aber wie lange halten sie? Wir machen den Langzeittest
Niemand würde seinen Fernseher wegschmeißen, sobald nach zwei Jahren die Gewährleistungspflicht des Herstellers erlischt. Bei Lebensmitteln sind die Gewohnheiten der Verbraucher ganz anders: Sobald das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) überschritten ist, landen viele noch einwandfreie Produkte im Müll. Fast die Hälfte sogar ungeöffnet – also ohne dass sich vorher jemand einen Eindruck davon verschafft hätte, ob Joghurt oder Frischkäse nicht doch noch genießbar sind. Diese Lebensmittelverschwendung muss eingedämmt werden. Aber wie?
Kein Thema, sagt Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg, sei so ein Dauerbrenner wie die Haltbarkeit von Lebensmitteln. „Bei unseren Vortragsveranstaltungen wird das Thema am häufigsten angefragt, und in unserem Ratgebershop ist es der Renner unter den Ernährungsthemen“, sagt die Expertin für Lebensmittelsicherheit. Bei den Seminaren, in denen Fachleute darüber aufklären, wie man Lebensmittel richtig lagert, Gesundheitsrisiken erkennt und was alles noch in den Eintopf kann, obwohl es schon weich und schrumpelig ist, werde immer wieder deutlich, wie groß Verunsicherung und Desinformation sind. Eine repräsentative Umfrage der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen ergab, dass ein Viertel der Befragten nicht erklären kann, was das Mindesthaltbarkeitsdatum vom Verbrauchsdatum unterscheidet. Richtig ist: Nur Letzteres beschreibt den Zeitpunkt, von dem an ein Produkt – vor allem leicht verderbliche Waren wie frisches Geflügel, Hackfleisch und Fisch – aus Gesundheitsgründen nicht mehr verzehrt werden sollte.
Das Mindesthaltbarkeitsdatum dagegen ist so etwas wie die Gewährleistungsfrist für Fernseher: eine Garantiezeit für Nahrungsmittel, innerhalb derer die Produkte weder Geschmack noch Konsistenz oder hygienische Qualität einbüßen dürfen. Diese Frist wird nicht vom Gesetzgeber, sondern von der Industrie bestimmt und variiert zwischen den Lebensmittelgruppen stark. Trockenprodukte wie Nudeln und Reis haben oft ein längerfristiges Mindesthaltbarkeitsdatum, frische Milchprodukte dagegen ein kürzeres. Das liegt auch an dem Versprechen, dass der Kunde keine Qualitätseinbußen akzeptieren muss, bevor das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wenn sich bei einem Joghurt zum Beispiel schon viel Flüssigkeit abgesetzt hat, könnte das als Produktmangel ausgelegt werden, obwohl der vermeintliche Schaden durch kräftiges Umrühren einfach zu beheben wäre.
Der Langzeittest im Greenpeace Magazin - Wie lange halten Lebensmittel wirklich?
Zusammen mit einem Labor für Lebensmittelsicherheit macht das Greenpeace Magazin den Test: Zwölf Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdaten erreicht sind, werden seit Ende November im Kühlraum des Labors gelagert und nun von den Lebensmittelchemikern regelmäßig untersucht. Wir wollen wissen: Wie lange bleiben die Produkte verzehrfähig, wie verändern sich Geschmack, Konsistenz, Aussehen? Und wie steht es um die Belastung mit Keimen? Wir werden in den folgenden Ausgaben über den Testverlauf berichten – so lange, bis wirklich keines der zwölf Produkte mehr zum Verzehr zu empfehlen ist.
Schon sieht man die Würmer kriechen
So trägt das Mindesthaltbarkeitsdatum seinen Teil zur Lebensmittelverschwendung in Deutschland bei. Und die ist enorm: Vermeidbare zehn Millionen Tonnen Nahrungsmittel wandern hierzulande jährlich ungegessen in die Tonne. Ihre Herstellung verursacht 22 Millionen Tonnen Treibhausgase und verbraucht 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche. Besonders grausam ist die Verschwendung angesichts der 45 Millionen Hühner, vier Millionen Schweine und 230.000 Rinder, die umsonst gemästet und getötet werden.
Ein großer Teil dieser Verschwendung und der mit ihr einhergehenden Umweltbelastung wäre vermeidbar, wenn Verbraucher weniger einkaufen, die Produkte richtig lagern und auch nicht mehr ganz taufrische Waren konsumieren würden. Einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge werden 37 Prozent der Lebensmittel weggeworfen, weil sie beim Verbraucher schlecht geworden sind, 15 Prozent werden verschmäht, weil sie nicht mehr appetitlich aussehen. Und sechs Prozent landen einfach deshalb im Abfall, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum verstrichen ist. Auch die in Deutschland vergleichsweise niedrigen Preise tragen offenbar dazu bei, dass die Sorgfalt im Umgang mit Lebensmitteln nicht immer sonderlich ausgeprägt ist.
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft vertritt zwar den Standpunkt, dass sich der Terminus Mindesthaltbarkeit bewährt habe. Ministerin Julia Klöckner hält es dennoch für notwendig zu betonen, dass Lebensmittel nicht mit dem Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums verderben. 2012 startete das Ministerium die Aktion „Zu gut für die Tonne“, deren Ziel es unter anderem ist, über den Unterschied von Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum zu informieren.
„Das Mindesthaltbarkeitsdatum in seiner aktuellen Form ist sicher nicht hilfreich, um das Verschwendungsproblem bei Lebensmitteln in Deutschland zu lösen“, sagt Verbraucherschützerin Schwartau. „Hier wäre schon mit einer neuen Begrifflichkeit geholfen.“ In englischsprachigen Ländern sind Lebensmittel häufig mit dem Hinweis „Best before“ versehen, die Franzosen kennen „A consommer de préférence avant“ – zu Deutsch: „Bevorzugt zu verbrauchen vor“. Beides macht intuitiv erfassbar, dass ein Verzehr auch nach Verstreichen dieses Datums unproblematisch ist. Schwartau könnte sich eine Formulierung wie „beste Qualität bis“ vorstellen.
„Mindestens haltbar bis“ ähnelt dagegen so sehr dem strengeren „Zu verbrauchen bis“, dass in der Fantasie mancher Verbraucher schon die Würmer kriechen. In der Konsequenz landen auch deshalb täglich massenweise einwandfreie Lebensmittel im Müll – nach dem Motto: Sicher ist sicher.
Dagegen startet das Unternehmen „Too good to go“ (sinngemäß: zu schade zum Wegwerfen), das mit seiner gleichnamigen App Lebensmittelverschwendung entgegenwirken will, gerade eine neue Initiative: In der Nähe des Mindesthaltbarkeitsdatums wird nun auf Packungen der Hinweis „Oft länger gut“ aufgedruckt. Neben Herstellern wie Alnatura und Andechser machen unter anderem Penny, Lidl, Bio Company und DM mit ihren Eigenmarken mit.
Silke Schwartau plädiert dafür, neben der Mindesthaltbarkeit auch das Herstellungsdatum als Orientierungshilfe auszuweisen. „Vor der gesetzlichen Einführung des Mindesthaltbarkeitsdatums verdarben Lebensmittel eben auch deshalb, weil eine verbindliche Angabe fehlte, die über die Lagerfrist Auskunft gab.“ Bis 1981 musste man sich tatsächlich irgendwie merken, welche Milchpackung im Kühlschrank die älteste war. Und oft verdarben Produkte bereits im Supermarkt, weil die Übersicht fehlte, was schon wie lange lagerte.
In den Haushalten lief es nicht besser: Omas traditionelles Verständnis von der Lagerfähigkeit von Frischwaren sowie über Generationen weitergegebene Konservierkniffe wie Einwecken und spezielles Würzen waren Anfang der Achtzigerjahre längst nicht mehr so verbreitet – auch, weil Lebensmittel immer billiger geworden waren und in den Regalen die Zahl der Fertiggerichte stetig zugenommen hatte.
Auch ein nach hinten gerücktes MHD würde einen großen Beitrag leisten. Denn sobald etwa Joghurts, deren Mindesthaltbarkeit oft viel zu knapp bemessen ist, das angegebene Datum erreicht haben, nehmen Händler sie aus dem Regal. Gesetzlich verpflichtet sind sie dazu zwar nur bei Produkten, deren strengeres Verbrauchsdatum überschritten ist. Doch wenn sie Waren jenseits des Mindesthaltbarkeitsdatums weiterhin verkaufen, wären sie für mögliche Schäden haftbar – schlimmstenfalls für eine Lebensmittelvergiftung.
Haltbarkeit ist auch eine Frage der Haftung
Wenn es nicht gerade um Reis oder Nudeln geht, zögern viele Supermärkte deshalb sogar, abgelaufene Waren an karitative Einrichtungen wie die Tafeln zu spenden – sie landen stattdessen im Müllcontainer. Und auch die Tafeln nehmen deshalb abgelaufene Waren nicht ohne Weiteres an. Ein politischer Vorstoß der Hamburger Grünen im Juni 2019, der das Containern entkriminalisieren sollte, wurde von der Justizministerkonferenz abgelehnt. Die CDU-Minister begründeten das auch mit juristischen Fragen: Wer ist haftbar, wenn einem Menschen der Magen ausgepumpt werden muss, weil er ein verdorbenes Lebensmittel aus dem Müllcontainer eines Supermarkts gefischt hat?
Solche rechtlichen Fragen sind allerdings auch nicht so komplex, als dass man sie nicht mit politischem Willen lösen könnte. Das Landwirtschaftsministerium befürwortet die einvernehmliche Problemlösung und verweist recht wolkig darauf, sich erst einmal auf „konkrete Zielvorgaben“ mit Industrie und Wirtschaft einigen zu wollen. Heißt im Umkehrschluss: Die Verbraucher sind weiterhin gefragt, die Angst vor dem Mindesthaltbarkeitsdatum abzulegen. Mit dieser Serie und einem Langzeittest will das Greenpeace Magazin dazu beitragen.
Die anderen Teile unserer Serie zum Mindesthaltbarkeitsdatum finden Sie in unseren Heften oder online: Teil 1 „Kann das weg?“, Teil 2 „Ist das noch gut?“, Teil 3 „Da ist doch was faul“, Teil 4 „Das hält sich ja ewig“
Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!