In Polen türmen sich Zehntausende Tonnen Müll aus Deutschland – illegal abgeladen am Rande von Dörfern, Seen und Wäldern. Darunter sind auch massenhaft Abfälle aus Gelben Säcken, zuvor in deutschen Haushalten penibel sortiert. Unsere Reporter sind für unsere Ausgabe 1.22 einem Fall nachgegangen – der beispielhaft ist für die Missstände einer ganzen Branche
Roman Mackowiak liebt es sauber und gepflegt. Nach der Arbeit beim Ordnungsamt widmet sich der 51-Jährige seinem Garten, kümmert sich um die akkurat gestutzten Bonsai-Zypressen, hegt Rosen und Begonien. Idyllisch von Feldern umgeben liegt sein Haus am Rand von Sarbia, ein Dorf im ländlichen Westen Polens. Aus der Wiese gegenüber hallt der Ruf der Kraniche. Hier, im Haus seiner Schwiegereltern, fanden Mackowiak und seine Frau jene Ruhe, nach der sie gesucht hatten. Bis im Januar 2018 die ersten Transporter kamen. Vom Garten aus sahen sie, wie die Vierzigtonner über die Landstraße donnerten. „Anfangs waren es zwei oder drei Lastwagen am Tag“, erinnert sich Roman Mackowiak. „Bald kamen teils mehr als zwanzig, tags und nachts.“ Er, der große und breitschultrige Mann mit dem wachsamen Blick, sagt: „Wir sind machtlos.“
Unmittelbar neben seinem Grundstück liegt die Trinkwasserentnahmestelle des Dorfes. Ausgerechnet dort bogen die Lkws ab, um ihre stinkende Fracht abzuladen. Binnen weniger Wochen entstand eine illegale Deponie mit Tausenden Tonnen Müll – der meiste davon aus Deutschland.
Sarbia ist kein Einzelfall. „Wir sind die Müllhalde Europas“, sagt Piotr Barczak, Abfallexperte beim Europäischen Umweltbüro, einem Dachverband von über 160 Umweltschutzorganisationen, über sein Land. An unzähligen Orten in Polen lagern Hunderttausende Tonnen Abfall aus Deutschland, Großbritannien, Schweden, den Niederlanden oder Italien auf illegalen Halden, die teils mit gesundheitsgefährdenden Stoffen belastet sind, wie unsere Recherchen belegen.
Mitten in einer Seenlandschaft etwa, unmittelbar hinter der Neiße, häufen sich seit Jahren 40.000 Tonnen sogenannte Zinkwälzschlacke, Industrieabfall einer deutschen Firma. In der Nähe der Stadt Lubin haben wir auf einer illegalen Deponie Zehntausende Tonnen Plastikmüll und Chemieabfälle aus Deutschland, Polen und England entdeckt, abgeladen direkt an einem Bach zwischen zwei Dörfern. Südlich von Krakau stapeln sich mehr als tausend Tonnen Müll einer Firma aus Süddeutschland neben einem Friedhof. Nur wenige Meter weiter wurde eine verlassene Tankstelle kurzerhand zur illegalen Halde für Abfälle aus Italien umgewandelt. In einem Industriegebiet in Zgierz bei ód gingen die Müllberge in Flammen auf. Bis heute stehen zwischen den Brandresten leckende Fässer mit gefährlichen Industriechemikalien.
Mit ähnlich dreisten Methoden haben kriminelle Müllschieber auch vielerorts in Deutschland illegale Müllhalden aufgetürmt (Greenpeace Magazin 2.21). Während die deutschen Umwelt- und Ermittlungsbehörden allmählich aufwachen, verlagert sich das schmutzige Geschäft zunehmend – nach Asien, Afrika und vor allem nach Osteuropa. Polen ist nach unseren Recherchen der neue Brennpunkt. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki spricht von einer „Müllmafia“. Auch deutsche Firmen sind involviert. Allein bei unserer Recherche sind wir auf Dutzende Entsorgungsunternehmen aus Deutschland gestoßen, deren Abfälle auf illegalen Halden in Polen liegen.
Wie in Sarbia. Der Zaun, der die Deponie am Ortsrand umgibt, ist löchrig. Das Gelände ist von Kiefernwald umgeben. Früher gehörte es einer Straßenbaufirma, danach lag das Grundstück brach. Zwischen den Betonplatten sprießen Wildblumen, Schmetterlinge flattern umher. Zur Sicherheit ziehen wir Schutzkleidung an – weiße Ganzkörperanzüge, Latexhandschuhe, Atemschutzmasken – und bahnen uns einen Weg durchs Gestrüpp. Die Müllschieber haben ganze Arbeit geleistet: Vor uns türmen sich wie Bauklötze Tausende Müllballen, zusammengepresst und mit Draht verschnürt, zu einem riesigen Müllriegel auf, mehr als hundert Meter lang, gut zwanzig Meter breit, etwa sechs Meter hoch.
Schnell entdecken wir Abfälle aus Deutschland: Shampooflaschen, Wurstverpackungen, Chipstüten, Joghurtbecher. Eine wilde Mischung bekannter Marken, offensichtlich aus Gelben Säcken: In deutschen Haushalten penibel getrennt, dann illegal in Polen abgeladen. Neben jeder Menge Hausmüll finden wir auch Hartplastik und Gummischläuche aus verschrotteten Autos. Müll aus Großbritannien ist dazwischen und vereinzelt aus Polen. Das meiste aber stammt aus Deutschland, wie uns später auch Gios bestätigt, die polnische Umweltschutzbehörde. Demnach liegen in Sarbia geschätzt 8700 Tonnen Abfall, davon 6500 Tonnen Verpackungsmüll aus der Bundesrepublik.
Abladen statt recyceln
Legale Müllexporte aus Deutschland nach Polen boomen. Sie haben sich innerhalb von fünf Jahren mehr als verdoppelt – auf fast eine Million Tonnen Müll im Jahr 2018, was rund 40.000 Lkw-Ladungen entspricht. Die Umweltauflagen im Nachbarland sind niedriger, die Preise für die Entsorgung günstiger. Der größte Teil der deutschen Exporte besteht offiziellen Angaben zufolge aus verwertbaren Materialien wie Schrott, Altpapier und Kunststoffabfällen, die ohne behördliche Genehmigung frei gehandelt werden dürfen – unter der Voraussetzung, dass sie tatsächlich auch verwertet werden. Dabei kommt es jedoch bis heute zu illegalen Transporten und dubiosen Geschäften – mit Müll, der einfach abgeladen statt verwertet wird.
„Als die ersten Laster kamen, erzählten mir die Arbeiter, auf dem Gelände würde eine Recyclinganlage entstehen“, erinnert sich Roman Mackowiak. „Da gingen bei mir die Alarmglocken an.“ Bald schon beschäftigten die wachsenden Müllberge das ganze Dorf. Der Ortsrat, dem Mackowiak angehört, stellte Nachforschungen an, machte bei den zuständigen Behörden Druck und forderte die Herausgabe von Unterlagen. Der Blick in die Akten empörte die Anwohnerinnen und Anwohner: Der stellvertretende Landrat hatte die Zwischenlagerung von Abfällen unmittelbar neben ihrem Trinkwasserbrunnen tatsächlich genehmigt.
In dem 600-Seelen-Dorf formierte sich Protest, wie schon ein paar Jahre zuvor. Da war es gelungen, eine riesige Hähnchenmastanlage zu verhindern, erzählen die Dorfbewohner stolz. Jetzt wollten sie auch die Müllmassen stoppen. Bei einer Protestaktion stellte sich eine kleine Schar einem der Lastwagen entgegen und blockierte die Zufahrt zum Ablagerungsplatz. Zeitungen und Fernsehsender berichteten. Plötzlich interessierte der Fall auch die Umweltbehörde und die Staatsanwaltschaft. Drei Monate später ließen die Behördern das Gelände abriegeln und untersagten den weiteren Betrieb. Bei Kontrollen des vermeintlichen Zwischenlagers wurden gleich mehrere Verstöße festgestellt. So hätten keine Abfälle aus dem Ausland abgeladen werden dürfen. Außerdem wurde der Boden, auf dem der Müll in Sarbia lagert, nicht wie vorgeschrieben zum Schutz des Grundwassers abgedichtet. „Wir haben Angst um unser Wasser“, sagt Mackowiak.
Toxische Wirkung
Seit bald vier Jahren ist der Abfall nun den Elementen ausgesetzt. Sonne, Regen, Schnee, Wind und Krähen haben den Ballen zugesetzt, Plastikschnipsel und Müllfetzen bedecken den Boden. Mit Kelle und Trichter füllen wir Sickerwasser aus einer Pfütze am Fuß der Müllberge ab, mit einer Zange kneifen wir Stücke aus einem Klumpen Autoschrott. Die entnommenen Proben lassen wir in einem Fachlabor auf Schadstoffe untersuchen.
Die Ergebnisse bewertet erneut der Toxikologe Edmund Maser von der Universität Kiel, der sich vor einem Jahr auch unsere Probenanalysen aus Deutschland angeschaut hatte. Ihm fällt bei der Wasserprobe der Wert für polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe auf, kurz PAK. „Das sind krebserregende Substanzen“, sagt er. Die Belastung übersteigt den Grenzwert der Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung um das Fünfzehnfache. Auch bei den Schwermetallen Kupfer und Nickel liegen unsere Messergebnisse über den in Deutschland zulässigen Grenzwerten. „Kupfer in zu hohen Konzentrationen ist ein Zellgift und kann den gesamten menschlichen Organismus schädigen“, erklärt Maser. „Nickel kann Allergien und Krebs auslösen.“ Man müsse damit rechnen, dass Schadstoffe durch Regenwasser aus dem Müll herausgespült werden. Maser fügt hinzu: „Auf solch illegalen Mülldeponien liegt oft ein ganzer Schadstoffcocktail vor, bei dem sich die einzelnen Schadstoffe in ihrer toxischen Wirkung sogar noch verstärken können.“ Für den Toxikologen steht fest: „Die Deponie muss so schnell wie möglich geräumt werden. Nur so lässt sich verhindern, dass Schadstoffe in den Trinkwasserbrunnen geraten.“
Nur: Wer ist dafür verantwortlich? Die polnische Umweltbehörde Gios fand in dem Müllhaufen von Sarbia Hinweise auf die Entsorgungsfirmen, von denen die Abfälle stammen. Darunter sind mehrere deutsche Unternehmen, zwei sind uns namentlich bekannt. Das eine sitzt in Bayern, das andere in Nordrhein-Westfalen.
Gios gibt an, die deutschen Firmen hätten ihren Abfall falsch deklariert – und fordert, dass sie ihren Müll zurückholen. Bereits seit Frühjahr 2018 liegt den beiden zuständigen Ämtern in den jeweiligen Bundesländern ein sogenanntes Rückholersuchen vor. Die Stelle in NRW teilt dazu mit, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Die betroffene Firma selbst reagiert auf unsere Anfragen nicht.
Die Behörde in Bayern sieht keinen Grund für eine Rückholaktion. Eine Überprüfung habe ergeben, dass der Export durch die bayerische Firma legal gewesen sei, alle erforderlichen Formulare hätten vorgelegen. Auch das betroffene Unternehmen weist jede Verantwortung von sich. Schriftlich teilt der Geschäftsführer auf Anfrage mit, man habe kurzzeitig mit einem zertifizierten „Letztverwerter“ in Polen zusammengearbeitet. Der habe die Verwertung der Abfälle „lückenlos“ dokumentiert.
Auf dem Papier ist also alles verwertet, aber in Wirklichkeit rottet deutscher Müll bis heute auf illegalen Halden in Polen vor sich hin. Grzegorz Wielgosiski, Professor an der Technischen Universität Lodz mit Forschungsschwerpunkt Abfallwirtschaft, wundert das nicht. „In Polen waren Genehmigungen für den Betrieb einer Entsorgungsanlage einfach zu bekommen.“ Was dort passierte, ob tatsächlich Anlagen mit entsprechenden Kapazitäten und technischen Möglichkeiten gebaut wurden, habe niemand kontrolliert. Erst Mitte 2019 hätten die Behörden die Auflagen verschärft.
Dennoch reißt die Abfallverschiebung nicht ab. Wielgosiski macht folgende Rechnung auf: „Manche polnischen Firmen nehmen Müll aus Deutschland weit unter dem üblichen Marktpreis an, zum Beispiel für achtzig statt 120 Euro pro Tonne.“ Laden sie den Müll dann einfach nur ab, statt ihn zu verwerten, sei das ein großartiges Geschäft. „Auch für die deutschen Firmen, die viel Geld einsparen“, so Wielgosiski.
Denn Müllentsorgung in Deutschland ist teuer. So zahlen Produkthersteller und Händler beispielsweise für jede Verpackung Geld an die Dualen Systeme. Geld, das sie sich von den Konsumenten im Supermarkt zurückholen – insgesamt knapp 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Damit werden Entsorgungsfirmen bezahlt, die den Müll aus dem Gelben Sack in hochwertige und minderwertige Bestandteile sortieren.
Ein schön durchdachtes System – in dem es aber offenbar immer noch lukrativer ist, selbst vermeintlich wertvolle Abfälle nach Polen zu bringen, als sie in Deutschland zu recyceln. Und in dem billigend in Kauf genommen wird, dass große Mengen nicht sachgerecht entsorgt werden. So schrieb das Fachblatt Euwid schon im Mai 2018, dass in der Branche illegale Exporte von Abfällen aller Art seit einiger Zeit bekannt gewesen seien.
Kriminelle Netzwerke
Hinter der Deponie in Sarbia steckt nach unseren Recherchen ein dubioses Netzwerk mehrerer polnischer Unternehmen mit weiteren illegalen Abfalllagern. Pächter des Grundstücks war eine Firma, die mutmaßlich einen Obdachlosen als Geschäftsführer eingesetzt hat. Ein Teil des deutschen Mülls soll über einen Zwischenhändler nach Sarbia gekommen sein. Dessen Lager liegt 120 Kilometer entfernt, mitten in einem Wald. Auch dort finden wir haufenweise Müll aus Deutschland. Und besonders erschütternd: Im Gespräch mit einem Landwirt, nur wenige Kilometer von Sarbia entfernt, erfahren wir, wie skrupellose Geschäftsleute ihm unter einem Vorwand binnen weniger Nächte seine Scheune bis unters Dach mit Müll aus Deutschland und England vollgestopft haben – darunter wohl ebenfalls Abfälle von der Entsorgungsfirma aus Nordrhein-Westfalen.
Welche Rolle deutsche Unternehmen bei solch dubiosen Geschäften spielen, ist schwer nachzuweisen. Laut der Sonderabfallgesellschaft SBB, die für Berlin und Brandenburg den Müllverkehr überwacht, verstoßen Entsorgungsfirmen aus Deutschland jedoch immer wieder „willentlich“ gegen Gesetze. Auch vermeintlich saubere Unternehmen, die in der Regel legal agieren, würden bei Gelegenheit krumme Geschäfte abwickeln, erklärt Jan Op Gen Oorth von der europäischen Polizeiorganisation Europol. So würden Dokumente wie Frachtpapiere gefälscht und Zollbeamte bestochen.
„Das Risiko aufzufliegen ist sehr gering“, sagt Op Gen Oorth. Denn die Verfolgung von Abfallkriminalität genieße bei Ermittlungsbehörden und Justiz eine niedrige Priorität, oft fehle es auch an Know-how. Zahlen zeigen: Wenn die Täter überhaupt auffliegen, können sie mit milden Strafen rechnen, in den meisten Fällen mit Bußgeldern unter 200 Euro. An erster Stelle stehe stattdessen meist die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels – wenngleich die Gewinne der Müllschleuser insgesamt ähnlich hoch seien wie die der Drogenkartelle.
Ist der Müll erst mal illegal abgeladen, wird es für die Anwohner schwer, ihn wieder loszuwerden. Dabei haften Abfallerzeuger laut europäischem und deutschem Gesetz so lange für ihren Müll, bis er fachgerecht entsorgt wurde. Bei illegaler Entsorgung hängt es davon ab, wer für das kriminelle Handeln verantwortlich gemacht wird: der deutsche Exporteur oder der polnische Importeur. Nicht selten schieben sich die Behörden beider Länder die Verantwortung gegenseitig zu – auf Kosten der Menschen vor Ort.
Regelmäßig kommt es auf illegalen Halden zu Bränden. Allein 2018 brannten in Polen mehr als 130 solcher Deponien. Dabei wurden vielerorts giftige Gase freigesetzt. Ermittler gehen davon aus, dass die Feuer meist vorsätzlich gelegt wurden, um den Müll loszuwerden.
Auch in Sarbia haben die Menschen Angst vor einem Brand. „Ich werde nachts öfter wach und schaue aus dem Schlafzimmerfenster, ob es auf der Deponie brennt“, sagt Roman Mackowiak. Ob die illegale Halde neben seinem Garten jemals geräumt wird, weiß er nicht. „Unsere Gemeinde hat kein Geld, um den Müll beseitigen zu lassen“, sagt er. „Ich befürchte, dass der Müll für immer hier liegen bleibt.“
Die Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium von Journalismfund.eu
Diesen Artikel finden Sie in unserer Ausgabe 1.22 „Und jetzt alle!“ des Greepeace Magazins. Im Schwerpunkt dreht sich alles um unsere Zukunft: die Kinder. Wir sagen, was eine enkeltaugliche Politik ausmacht und hören gut zu, wenn junge Menschen aus aller Welt erzählen, wie sie gegen Müll, Rassismus und den Klimakollaps kämpfen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!