Der Biologe und Aktivist Fionn Pape beschriftet in Göttingen Wildpflanzen, um auf deren Artenreichtum und Bedeutung hinzuweisen. Wir haben ihn für die Ausgabe 4.21 „Alles kreist" des Greenpeace Magazins begleitet
Ein zartes Pflänzchen vor seinen Turnschuhen weckt Fionn Papes Aufmerksamkeit. „Das Wollige Honiggras hätte ich an dieser Stelle nicht unbedingt erwartet.“ Der Biologe zeigt auf samtig behaarte Halme mit purpur-weißlichen Blütenrispen, die aus einer Fuge zwischen Pflastersteinen sprießen. Eigentlich wächst dieses Gras auf feuchten Wiesen – und nicht an Extremstandorten wie diesem. Multiplexkino, Hotelkette, Systemgastronomie und jede Menge asphaltierte Parkplätze: Für Stadtmenschen mag der Platz hinter dem Göttinger Hauptbahnhof ein gewöhnlicher, urbaner Raum sein, ihr Lebensraum. Aber für das Wollige Honiggras?
„Das ist zwar ein mickriges Exemplar, aber irgendwo muss es Wasser herbekommen haben“, sagt Pape und sieht sich um – weiße Parkplatzmarkierungen, Firmenschilder, achtlos abgestellte E-Scooter. Auf dem porösen Betonpflaster Kaugummipapier und Zigarettenkippen. Ein getrockneter Wasserrand verrät, dass sich in der leichten Senke rund um das Honiggras beim letzten Regen etwas Feuchtigkeit gesammelt haben muss. Die hat offenbar genügt, um ein herbeigeflogenes Samenkorn zum Keimen zu bringen.
Kreide fürs Kraut
Fionn Pape zieht eine Packung Malkreide aus seinem schwarzen Rucksack und kniet sich hin. Neben „Wolliges Honiggras“ schreibt er #mehralsunkraut aufs Pflaster. Bei Instagram und Twitter findet man auch unter den Hashtags #krautschau und #morethanweeds Fotos solch augenscheinlicher Naturschutzaktionen. „Botanic Streetart“ oder auch „Guerillabotanik“ hat sich von den Gehwegen Europas zu einer digitalen Bewegung ausgewachsen, die dem Artenreichtum des Asphaltdschungels huldigt. Beschriftet wird in Nantes, Toulouse, Leiden, London – und Göttingen. Pape, der als freiberuflicher Gutachter sowie für den Landschaftsverband der Stadt arbeitet, war sofort begeistert von der Idee. „Nur was die Menschen kennen, sind sie auch bereit zu schützen, anstatt es als Unkraut zu bekämpfen“, sagt der 29-Jährige. „So kann ich die Aufmerksamkeit auf den großen Artenreichtum an Wildpflanzen lenken, der uns Stadtbewohner umgibt.“
Der ist tatsächlich so vielfältig, dass Pape vor lauter Bestimmung und Beschriftung kaum vorankommt: Erst der Breitwegerich, der gern auch auf Wiesen und Weiden wächst, aber als trittfest gilt und deshalb häufig an verkehrsreichen Stellen in der Stadt zu finden ist. Mit bis zu einem Meter langen Wurzeln überlebt er auch auf stark verdichteten Böden. Und seine Samen sind mobil: Sie kleben an Fell, Federn, Kleidung und Autoreifen. Als Nächstes das feinblättrige Kahle Bruchkraut: Eigentlich an Sandmagerrasen gewöhnt, kommt es auch mit sandigen Fugen klar. Das sehr kleine Niederliegende Mastkraut ist ebenfalls an urbane Widrigkeiten angepasst. Innerhalb von nur zwei bis drei Monaten keimt, wächst und vermehrt es sich. So sichern gleich drei bis vier Generationen pro Jahr sein Überleben.
Was wie ein karger Platz aussieht, ist ein Mosaik biologischer Nischen: Nachbargebäude und Müllcontainer spenden Schatten, Mauervorsprünge schützen vor Wind. Gitterzäune, Feuertreppen und Halteverbotsschilder bieten Rankhilfe, ausgewaschene Fugen im Pflaster Schutz vor Vogelfraß. Sonnenhungrige Kräuter erheben sich aus sandgefüllten Ritzen, manch Keimling scheint sogar den Asphalt zu sprengen. Fionn Pape lässt wieder den Blick schweifen. „Allein auf diesem Platz wachsen rund fünfzig verschiedene Arten.“ Pape setzt seine Tour fort, passiert eine Spielhalle, ein Parkhaus und eine gekachelte Bahnunterführung voller Graffiti. Bereits an der ersten Kreuzung in Richtung Altstadt kniet er wieder nieder: Echte Kamille, Schöllkraut, Pyrenäen-Storchschnabel, Natternkopf, Ferkelkraut und die Große Kratzdistel. Die meisten Pflanzen erkennt er sofort, selten schlägt er in dem dicken Bestimmungsbuch nach, das unter seinem Arm klemmt. Hummeln summen an den bunten Blüten. Die Kreide kratzt über die Gehwegplatten. Hinter ihm lärmt der Autoverkehr. Vom Bahnhof wehen Lautsprecherdurchsagen und das Quietschen eines einfahrenden Zuges herüber. „Nichts ist schöner, als die Welt zu verstehen, durch die wir laufen“, schwärmt Pape. Allein in seiner Heimatstadt schätzt er die wilden Pflanzen auf 700 bis 800 Arten. Viele sind Einwanderer, vor langer Zeit per Frachtschiff oder Güterzug gekommen oder als Zierpflanzen ausgekniffen aus Gärten und Parks. Schon ihre Namen sind die Aufmerksamkeit wert – Taube Trespe etwa, Nelken-Leimkraut und Kanadisches Berufkraut. Nur erkennt sie kaum jemand: „Es gibt leider nicht nur ein Sterben der Arten, sondern auch der Kenner von Arten.“ Allerdings würden die Menschen seit der Coronapandemie die Natur mehr wertschätzen und ihre Bedrohung stärker wahrnehmen.
Pape engagiert sich seit seiner Jugend in der Biologischen Schutzgemeinschaft der Stadt, seine Eltern haben hier die Partei der Grünen mitgegründet. Er organisiert Führungen und pflegt geschützte Biotope. Naturschutz müsse aber heraus aus der Nische und an unerwarteten Orten stattfinden. Dort erreiche er auch Menschen, die sich eigentlich nicht dafür interessieren. „Ich markiere Wildpflanzen in der Stadt aus politischen Gründen und nicht, um schöne Blümchen zu zeigen.“ Gerade der subversive Charakter der Aktion sowie die Nutzung sozialer Medien spreche junge Menschen an und sensibilisiere sie für die Bedeutung und Fragilität der Arten.
Viele der Wildpflanzen bieten Nahrung und Habitate für bedrohte Insekten und andere Tiere. Ist die Stadt der neue Ort, um Natur und Biodiversität zu retten? Pape schüttelt energisch den Kopf. „Der große Reichtum in der Stadt kann den Artenverlust nicht aufhalten.“ Der findet vor allem auf und um die landwirtschaftlich genutzten Flächen herum statt, die mehr als die Hälfte Deutschlands ausmachen.
Doch der Blick aufs urbane Kraut könnte das Bewusstsein für die Problematik schärfen. Bislang kratzt, brennt und spritzt es der Mensch meist von Parkplätzen, Einfahrten und Bürgersteigen. Nimmt er dagegen die Schönheit und den Einfallsreichtum wilder Natur in seiner unmittelbaren Umgebung wahr, steigt womöglich die Wertschätzung – und damit die Bereitschaft, diese zu schützen.
Das hofft auch Boris Presseq vom Museum für Naturgeschichte in Toulouse. Man kann ihn als einen der Erfinder der städtischen Botanikbewegung bezeichnen. „Indem wir sie markieren und benennen, geben wir den Wildpflanzen eine Existenz“, sagt er. Seit mehr als 15 Jahren inventarisieren er und seine Kollegen die Gewächse der Stadt, zuerst mit Namenstafeln, angeregt durch einen Aktivisten in Nantes, dann mit Kreide. Belohnt werden die Botaniker mit viel Interesse und Beifall: Passantinnen sprechen sie an, Lehrer und Dozentinnen fragen nach Kooperationen. Presseqs Video über Wildpflanzen in der südfranzösischen Stadt wurde im Internet mehr als sieben Millionen Mal angeschaut. Woher das große Interesse? „Die Menschen haben vergessen, wie unglaublich faszinierend die Vielfalt an Formen, Größen, Farben und Anatomien der Natur ist“, meint Presseq. Nun würden sie auf ihren täglichen Wegen daran erinnert.
Selbstbestimmt
Mit Apps wie Flora Incognita und PlantNet lassen sich fotografierte Pflanzen identifizieren, mit iNaturalist auch Tiere.
Wer nicht alle Arbeit der Fotoerkennung überlassen möchte, schlägt im illustrierten Klassiker „Was blüht denn da?“ nach.
Lass’ wachsen!
Seit Frankreich Pestizide in Ortschaften verboten hat, müssen die städtischen Bediensteten Wildpflanzen aufwendig mechanisch entfernen. Das hat zwar zu einer Zunahme und größeren Sichtbarkeit der fast 900 Arten in der Stadt geführt, meint Presseq zufrieden. „Warum aber lässt man diesen Reichtum nicht einfach sprießen?“ Göttingen verzichtet bereits seit 1988 auf Pestizide. Deshalb findet Fionn Pape auf seiner Tour eine solche Vielfalt. Mittlerweile hat er die Fachwerkhäuser der Altstadt erreicht. Aus aufgeplatzten Fassaden wächst Schöllkraut, auf Höfen mit Kopfsteinpflaster Wegrauke und Ackerwinde. Derart aufgebrochene Strukturen wusste schon im Mittelalter das Aufrechte Glaskraut in Burgmauern zu nutzen. Pape findet es an einer alten Kirche. An einer anderen Wand mit breiten Rissen im Putz und offenen Backsteinen markiert er Zimbelkraut. Zerfall schafft Lebensraum, hier finden zum Beispiel Mauerbienen Löcher zum Brüten. „Wenn alles glatt geschniegelt wird, gehen diese Habitate verloren.“
Ein letztes Mal kniet er nieder, um zwischen Tattoo Shop, Hostel und Bioladen einen Gelben Lerchensporn am Gehweg zu markieren. „Ein optimaler Platz, hier laufen viele Fußgänger vorbei“, sagt er. Und die Natur liegt ihnen nicht länger anonym zu Füßen.
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 4.21 „Alles kreist“. Darin kreisen wir die Probleme unseres linearen Weltbildes ein, und zeigen, wie Recycling besser ginge und wie natürliche Kreisläufe ablaufen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!