Liebe Leserinnen und Leser,
haben Sie auch manchmal den Eindruck, dass es große Widersprüche gibt zwischen den Äußerungen manch eines Politikers und den tatsächlichen Ereignissen in diesem Land? Zum Beispiel diese Woche.
Am Montag erklärte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) im Deutschlandfunk, warum die Innenministerkonferenz beschlossen hat, ein bundesweites Lagebild der Klimaprotestgruppe „Letzte Generation“ zu erstellen. Mit ihrem organisierten Vorgehen komme die Gruppe „in die Nähe von dem Verdacht, eine kriminelle Vereinigung zu sein“, sagte Reul. Einigen Linksextremen dort gehe es um die „Überwindung des Systems“. Die „Klima-RAF“ lässt grüßen. (Auch wenn Reul diesen von CSU-Mann Alexander Dobrindt geprägten Begriff nicht in den Mund nahm.)
Und am Mittwoch dann? Flog eine extremistische Verschwörung auf, die tatsächlich das System „überwinden“ wollte – allerdings von rechts.
In den frühen Morgenstunden hatten Spezialkräfte der Polizei in elf Bundesländern mehr als 130 Wohnungen, Büros und Lagerräume durchsucht, darunter auch die Kaserne des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Baden-Württemberg. Zwei Dutzend Frauen und Männer wurden festgenommen. Sie werden verdächtigt, einer rechten Terrororganisation anzugehören und einen Umsturz in Deutschland geplant zu haben. Mehr als 3000 Beamtinnen und Beamte waren dafür im Einsatz, eine der größten Polizeiaktionen gegen Extremismus, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Unter den Verdächtigen sind eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete mit Zugang zum Bundestag, ein Mitglied der KSK sowie ein aktiver und einige ehemalige Bundeswehrsoldaten.
Zwar sei ein Staatsstreich sehr unwahrscheinlich, sagt der Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich über die Gruppierung, doch er spricht von einer ernstzunehmenden Bedrohung: „Es hätte sicher Tote gegeben.“
Das Krebsgeschwür unserer Gesellschaft
Am Mittwoch also beschlich mich wieder mal der Eindruck, dass manche Debatten an den realen Gefahren vorbeilaufen – in diesem Fall war es die offensichtliche Diskrepanz zwischen herbeigeredetem linkem „Klimaterror“ und gerade noch verhindertem Terror von rechts.
Wie real diese Gefahr ist, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen Verbrechen der vergangenen Jahre. Die Messerattacke gegen die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker 2015, das tödliche Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019, im selben Jahr der Anschlag auf eine Synagoge in Halle und die Ermordung von neun Menschen in Hanau durch einen Rechtsextremisten im Februar 2020, um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von den zehn Morden des NSU in den Jahren 2000 bis 2011.
Der aktuelle Fall zeigt aber auch, dass Rechtsextreme nicht nur die „klassischen“ Glatzen mit Springerstiefeln sind, sondern in der Mitte der Gesellschaft stehen – teils sogar im Innersten deutscher Sicherheitsbehörden. Die New York Times veröffentlichte bereits im vergangenen Jahr den außerordentlich gut recherchierten und produzierten Podcast „Day X“ über Rechtsextremisten in der Bundeswehr und in der deutschen Polizei, die sich auf den Tag vorbereiten, an dem die Demokratie fallen soll – den Tag X. Es handelt sich demnach nicht um einzelne „Verirrte“, sondern um ein ganzes Netzwerk, das sich über Chatgruppen organisiert, Todeslisten schreibt und von der Zerstörung unserer Gesellschaft fantasiert. „This is a cancer“, sagt der ehemalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und heutige Chef des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan J. Kramer in diesem Podcast. Der Rechtsextremismus und sein Gedankengut seien in Deutschland wie ein Krebsgeschwür verwurzelt.
Wenn dieser Tage also von Terror und Umsturz die Rede ist, sollte sich jeder und jede genau überlegen, wen er oder sie damit meint. Oder wie es Katrin Höffler, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, bewusst polemisch formuliert: „Anders als bei Rechtsextremisten ist (...) nichts darüber zu lesen, dass sich die Klimaprotestierenden auf speziellen Klima-Konzerten aufputschen, um dann Autofahrer*innen 'klatschen' zu gehen oder Museen zur Hauptbesuchszeit anzuzünden.“
Fridays for Frogs
Ursprünglich wollte ich in dieser Wochenauslese ausführlich über die Weltnaturschutzkonferenz schreiben, die am Mittwoch im kanadischen Montréal begonnen hat. Sie ist es wert, auf allen Kanälen zu laufen. Denn die CBD COP, wie sie in Fachkreisen heißt, ist das Natur-Pendant zur jährlichen Klimakonferenz – weniger bekannt aber nicht minder dringlich. Sie hätte schon vor zwei Jahren im chinesischen Kunming stattfinden sollen, wurde aber aufgrund der Pandemie zunächst verschoben und dann nach Kanada verlegt. Biodiversitätsexpertinnen und -experten erhoffen sich von ihr eine Art Paris-Moment, ein ehrgeiziges Abkommen zum Schutz der Arten und der biologischen Vielfalt, mit dem das sechste Massenaussterben doch noch verhindert werden soll.
Ich lege Ihnen dazu sehr die Lektüre unseres Heftes aus dem Sommer ans Herz, das wir „Mission Vielfalt“ getauft haben. Warum die Artenkrise keine Greta Thunberg, kein Fridays for Frogs habe, haben darin meine Kollegin Katja Morgenthaler und mein Kollege Wolfgang Hassenstein den bekannten Biologen Josef Settele gefragt. „Ist das Thema schwerer zu fassen?“ Seine Antwort: „Es ist unfassbar.“
Das ganze Interview mit Settele finden Sie übrigens auch frei zugänglich online auf unserer Website. Vielleicht haben Sie an diesem dritten Adventswochenende Zeit, es zu lesen. Wir freuen uns immer, wenn Sie uns besuchen!
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Frauke Ladleif
Redakteurin
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