Nachhaltigkeit ist ein großes Wort. Jede Partei und jedes Unternehmen schreibt es sich heute auf die Fahne. Und mittlerweile wissen wohl die meisten auch, worum es geht: um sparsames Wirtschaften, das die Endlichkeit der Ressourcen im Auge behält. Doch was angesichts der unendlichen Konsummöglichkeiten – vom neuesten Smartphone über die schicken Schuhe bis hin zum Neuwagen – Nachhaltigkeit im Alltag bedeutet, das ist die große Frage.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat eine App entwickelt, die bei der Suche nach Antworten helfen soll. „NachhaltICH“ heißt die Anwendung, die seit Ende letzten Jahres auf dem Markt ist und kostenlos für Android und iOS-Betriebsysteme zur Verfügung steht. Sie ist nicht die erste ihrer Art, es gibt zahlreiche Apps, die zum nachhaltigen Einkaufen einladen, über faire Textilien informieren oder beim Energiesparen helfen. Das Ministerium will all diese nachhaltigen Einzelunternehmen in ihrer App zusammenfassen. Das Ziel: Die 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die bis 2030 auf der ganzen Welt umgesetzt werden sollen, in einfache Alltagsanweisungen zu übersetzen und das Thema vor allem jungen Menschen nahezubringen. Doch wie wird aus Politikzielen wie „Ernährung sichern – den Hunger beenden“, „Ungleichheit verringern“ und „Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen sicherstellen“ etwas, das den Alltag des Einzelnen verändert?
Wenn man die App öffnet, sieht man ein Wimmelbild: Am Horizont brennt ein Wald, davor rauchende Fabrikschlote, Straßen voller Autokolonnen, Menschen, die durch Müll waten, Abwässer, die ins steigende Meer im Bildvordergrund fließen. So, sagt die App, sieht unsere Zukunft aus, wenn wir die Nachhaltigkeitsziele nicht umsetzen.
Das Programm hält aber auch eine gute Nachricht bereit: Diese Zukunft ist veränderbar. Am rechten oberen Bildrand sieht man einen „Refresh“-Button – ein erster Hinweis darauf, dass man mit seinen Aktionen in der App das Bild der Zukunft verändern kann. Dafür schlägt die App dem Nutzer Aufgaben vor, sogenannte Challenges: „Ich habe mich über die verschiedene Waschprogramme meiner Waschmaschine informiert“ lautet die erste. Stärken soll diese Challenge das Nachhaltigkeitsziel „Bezahlbare und saubere Energie“. Die Hintergründe kann man sich in Kurzvorträgen in Stil von Insta-Storys erklären lassen, manche Informationen sind auch mit hilfreichen Internetseiten verlinkt. Dort kann man nachvollziehen, was der 30-Grad-Gang mit nachhaltiger Energie zu tun hat. Wer dieses Ziel im Zeitraum einer Woche schafft, bekommt zehn Blitze und acht Herzen – die Währungen im NachhaltICH-Universum. Am Ende führt die App den Nutzer zum aktualisierten „Futurescreen“: Im dystopischen Wimmelbild steht plötzlich eine kleine mechanische Mühle am Fluss.
Der Wettbewerbscharakter entsteht über den Vergleich und Austausch mit anderen Nutzern. Man kann sich mit anderen vernetzen, Freunde und Kollegen einladen, um gemeinsam in kleinen Schritten nachhaltiger zu leben. Die „Challenges“ haben unterschiedliche Schwierigkeitsgrade – je mehr man erfolgreich absolviert hat, desto größer werden die Herausforderungen. Rund 5000 Menschen haben die App seit der Veröffentlichung im November runtergeladen. Je größer die „Spielergemeinde“ wird, desto besser funktioniert das Prinzip des Wettbewerbs, und der Anreiz für mehr Nachhaltigkeit im Alltag steigt.
Fünf Tage Zeit räumt die App für diese Challenge ein: „Ich habe ein Gericht gekocht, für das ich nur verpackungsfreie Lebensmittel verwendet habe.“ Oder eine Woche für diese: „Ich habe Feuchttücher durch Waschlappen ersetzt.“ Für beide erledigten Aufgaben bekommt man Blitze und Herzen, und im „Futurescreen" taucht plötzlich ein Fahrradfahrer auf und das Meerwasser wird klarer.
Wie wirksam solche digitalen Bildungswerkzeuge sind, analysiert der Umweltpsychologe Marcel Hunecke, der an der Fachhochschule Dortmund Strategien zur Förderung nachhaltiger Lebensstile forscht. Apps wie „NachhaltICH“, sagt er, könnten den Nutzern einen Einstieg ins Thema ermöglichen und ihnen anschaulich vor Augen führen, wie ihr Handeln ökologisch wirkt. Die sogenannte „Gamifizierung“, also die spielerische und kompetitive Ausrichtung solcher Apps, kann dazu beitragen, die Nutzer für Verhaltensänderungen zu motivieren. „In der Umweltpsychologie sind solche Spiele-Apps derzeit sehr beliebt, besonders, weil man sich davon Zugang zu neuen Zielgruppen erhofft“, sagt Hunecke. Doch genau da liegt seiner Meinung nach ein großes Problem: „Man erreicht mit solchen Spielen meist nur die Menschen, die ohnehin schon am Thema interessiert sind. Für junge Leute, die wirklich zocken wollen, reicht die Gamifizierung dieser komplexen Nachhaltigkeitsinhalte nicht aus.“
Aus psychologischer Sicht bedarf es größerer Anreize, das eigene Leben nachhaltiger zu gestalten, sagt Hunecke. „Kurzfristig schaffen es sicher viele Menschen, nachhaltigere Praktiken in ihrem Leben zu etablieren. Doch langfristig reichen dafür virtuelle Werte wie Blitze nicht aus“, sagt Hinecke. Bei Fitness-Apps sei das einfacher, das Ziel – fit werden und gut aussehen – ist direkt eigennutzoriertiert, aber gerade deshalb besonders motivierend. Bei Apps zum Thema Nachhaltigkeit sei das viel schwieriger, weil das Ziel diffuser sei. „Nachhaltigkeit als Wert kann man nicht einfach herbeispielen, dafür braucht es auch einen Wandel im Umfeld der Nutzer, in der Gesellschaft und der Politik“, sagt der Psychologe. Am Ende komme man nicht darum herum, reale Prozesse in der Gesellschaft anzustoßen.
Beraten wurde das Ministerium bei der Entwicklung der App unter anderem vom Naturschutzbund (Nabu). Projektkoordinatorin Ronja Krebs sagt, der Nabu habe bei der Auswahl der „Challenges“ geholfen. Diese Form des digitalen Wettbewerbs nutzt auch der Nabu im Moment verstärkt für die Umweltbildung, seit Anfang 2020 gibt die Organisation jeden Monat ein Oberthema bekannt (im April „Do it Yourself“, im Mai „Weniger Tier auf dem Teller ist mehr Klimaschutz“) und veröffentlicht dazu wöchentlich Ideen, wie sich interessierte Umweltschützer diesen Themen annähern können. „Unser Ziel ist es, Menschen zusammenzubringen und eine kritische Masse für Veränderungen zu begeistern“, sagt Krebs. Wichtig ist es aber ihrer Meinung nach auch, dass man bei großen Themen wie den Nachhaltigkeitszielen die Grenzen der individuellen Verantwortung klarmacht. „Natürlich geht es bei Zielen wie ‚Armut beseitigen‘ nicht nur darum, dass man zu Hause alles richtig macht. Für eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft braucht es vor allem politische Veränderungen“, sagt Krebs. Apps wie „NachhaltICH“ seien in diesem politischen Prozess ein erstes, niedrigschwelliges Bildungsangebot. Man könnte auch sagen: ein erster Schritt auf einem langen Weg.
Denn wer sich eine Weile an den Wettbewerben der BMZ-App versucht und den „Futurescreen“ immer lebenswerter werden lässt – die Abwässer versiegen, der Wald brennt nicht mehr, die Landschaft wird bunter –, der kann vielleicht Mut fassen. Mut, dass man nicht nur alles falsch, sondern auch vieles richtig machen kann. Dass eine andere Welt möglich ist, und dass man dabei mit der Nutzung eines Waschlappens anfangen kann.