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Grüne Grundsatzfragen Von Teresa Dapp, dpa

Nächstes Jahr wollen die Grünen mit der Union um den Sieg bei der Bundestagswahl konkurrieren. Der Bundesparteitag an diesem Wochenende soll dafür eine Startrampe bauen. Worum es dabei geht - und worum (noch) nicht.

Berlin (dpa) - Wenn an diesem Sonntag die Schlussabstimmung geschafft ist, dürften Robert Habeck und Annalena Baerbock erleichtert sein. Und das nicht, weil die beiden Grünen-Chefs beim Bundesparteitag an diesem Wochenende zur Wahl stünden oder sie Sorge haben müssten, dass ihre Partei nicht mehr hinter ihnen steht. Zur Abstimmung steht aber, wenn man so will, der Kurs, auf den Habeck und Baerbock ihre Grünen in den vergangenen drei Jahren gesteuert haben. Dieses Wochenende kann ein Kapitel ihrer Zeit an der Spitze schließen - und Platz für etwas anderes machen: Den Anlauf für den Sprung in die Regierung.

Was wird denn nun beschlossen beim Parteitag, der in der Corona-Pandemie drei Tage lang als riesige Videokonferenz zusammenkommt? Das neue Grundsatzprogramm, das vierte in der 40-jährigen Parteigeschichte. Das letzte ist aus dem Jahr 2002, einer schwierigen Zeit für die Grünen. Sie regierten als Juniorpartner der SPD, rutschten in Umfragen aber teils unter die Fünf-Prozent-Hürde, brauchten Selbstvergewisserung.

Auch als die Arbeit an der neuen Fassung begann, hatten die Grünen eine schwierige Zeit. Bei der Bundestagswahl waren sie nur kleinste Oppositionskraft im Bundestag geworden, hatten sich mit Union und FDP trotzdem auf dem Weg in eine Regierung geglaubt - daraus wurde bekanntlich nichts. Der Jamaika-Kater war heftig, Habeck und Baerbock mussten als neue Doppelspitze Aufbruchstimmung schaffen. Keine drei Monate nach ihrer Wahl schickten sie die Partei auf den Selbstfindungstrip «Grundsatzprogramm».

Das hatten sich die Grünen zwar schon 2016 vorgenommen, aber Habeck und Baerbock drückten dem Prozess von Beginn an ihren Stempel auf. Sie provozierten mit Fragen wie: Ist Gentechnik okay, wenn sie die Versorgung mit Lebensmitteln sichert? Was ist die Nato wert, wenn die Mitglieder sich zerstreiten und sogar zu Feinden werden? Diskutiert wurde seitdem nicht nur unter Grünen, sondern mit der ganzen Gesellschaft. Inzwischen ist daraus das Label «Bündnispartei» gewachsen mit einem Anspruch, der Anfang 2018 undenkbar schien: 2021 die Bundestagswahl gewinnen, jedenfalls der Union Konkurrenz machen.

Man nehme nur die Überschrift der Präambel: «Zu achten und zu schützen - Veränderung schafft Halt». Ein Zitat aus Artikel eins des Grundgesetzes, Halt schaffen, aber durch Veränderung - das soll alle einladen, Konservative und Progressive.

Mit Rhetorik wie «Radikal ist das neue Realistisch», verändern, um zu bewahren, haben Habeck und Baerbock die Grünen zwischenzeitlich auf Umfrage-Augenhöhe mit der Union gebracht. Das war 2019 in der Hochphase der Klimaschutz-Bewegung, aber immerhin: Nach einem Dreivierteljahr Corona-Krise, die Wirtschaftssorgen nach vorn rückt, stehen die Grünen recht stabil bei 18 bis 20 Prozent, vor der SPD.

Wer Erfolg hat, hat recht - gilt das auch bei den Grünen? Einerseits ja, niemand stellt die Parteichefs in Frage. Das Streiten haben sie aber nicht verlernt - Bundesgeschäftsführer Michael Kellner kündigte «spannende Debatten» an, es gab mehr als 1300 Änderungsanträge.

Da wird das Bekenntnis zur Marktwirtschaft in Frage gestellt, die Gentechnik-Forschung soll mal erleichtert, mal verhindert werden, es geht ums Grundeinkommen, direkte Demokratie, die Nato - und die Frage, wie ehrgeizig die Klimaschutz-Ziele sein sollen. Schon zur Überschrift der Präambel - Veränderung schafft Halt - dürfte es eine Abstimmung geben, der Alternativvorschlag: «Veränderung erhält das Ökosystem und schafft Zukunft für alle.»

Worum es nicht geht, ist die Frage, die Habeck und Baerbock seit 2019 bei jeder Gelegenheit gestellt bekommen: Wird er grüner Kanzlerkandidat, wird sie grüne Kanzlerkandidatin?

Mit der Personalentscheidung lassen sie sich Zeit - wohl bis nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März, wo der einzige grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann seinen Posten zu verteidigen hat. Der Wahlsonntag im Südwesten ist enorm wichtig für die Partei.

Denn die Klimaliste als Konkurrenz bei der Landtagswahl verdeutlicht ein strategisches Problem: Teilen der Umwelt- und Klimabewegung sind die Bündnisgrünen nicht mehr grün genug. Das zeigten zuletzt auch die wütenden Proteste gegen den Autobahnbau in Hessen, die Aktivisten sogar auf den Balkon der Berliner Parteizentrale führten - und nicht zum benachbarten, CSU-geführten Bundesverkehrsministerium.

Und dann haben die Grünen in der Landeshauptstadt Stuttgart gerade auch noch den Chefsessel verloren. Das hat nicht direkt miteinander zu tun, der Zeitpunkt ist aber mindestens unschön. Der Wahlkampf ist kein Selbstläufer - da kann eine ordentliche Startrampe an diesem Wochenende nicht schaden.

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