WissenschaftlerInnen neigen gemeinhin dazu, sich eher komplex auszudrücken. Sie wollen faktisch genau sein und Wahrscheinlichkeiten nicht vorschnell zu Gewissheiten uminterpretieren. Deswegen sollte man aufhorchen, wenn eine Gruppe internationaler MeeresforscherInnen der Weltgemeinschaft – wenn auch indirekt in ein Einstein-Zitat verpackt – vorwirft, dem Wahnsinn verfallen zu sein. „Die Erkenntnis, dass wir auf dem gleichen Weg weitergehen, ohne den Ozean vom Druck der Ausbeutung und des Klimakollapses zu verschonen, und trotzdem ein anderes – positiveres – Ergebnis erwarten, wurde von Einstein als Definition des Wahnsinns verwendet“, schreiben sie in dem Fachmagazin Aquatic Conservation.
Das will das Forschungsteam mit einem umfassenden Report zurechtrücken, den es im Auftrag der britischen Nichtregierungsorganisation International Programme on the State of the Ocean (IPSO) verfasste. Der Zeitpunkt, mitten in einer globalen Pandemie zum Meeresschutz aufzurufen, ist bewusst gewählt. „Auf dem Weg in eine Welt nach Covid-19 müssen neue politische Entscheidungen getroffen werden“, schreiben die Forschenden. Sie wollen sichergehen, dass der Ozean dabei angemessen berücksichtigt wird.
„Der Ozean ist zentral für alles Leben auf Erden aber wird traditionell außen vor gelassen“, sagt Dan Laffoley, leitender Autor der Studie. „Wir haben ihn in allen wichtigen Entscheidungsprozessen vernachlässigt. Wenn wir an Land übermäßig ausbeuten, wenden wir uns dem Meer zu – nach der falschen Vorstellung, dass es reichlich Fische im Wasser gibt.“ Der Brite Laffoley ist Hauptberater zum Thema Meere bei der Weltnaturschutzunion (IUCN), er setzt sich seit den Achtziger Jahren mit seiner Forschung für den Meeresschutz ein. Und ihm geht die Geduld aus: „Wenn wir jetzt nicht handeln, können die Folgen beträchtlich sein.“ Damit meint er nicht nur die Konsequenzen für den Ozean, sondern auch für die Menschheit. Um das verständlich zu machen, haben die Forschenden sechs Punkte in einfacher Sprache erarbeitet:
1. Alles Leben ist vom Ozean abhängig.
2. Indem wir dem Ozean schaden, schaden wir uns selbst.
3. Indem wir den Ozean schützen, schützen wir uns selbst.
4. Mensch, Ozean, Biodiversität und Klima sind untrennbar miteinander verbunden.
5. Ozean und Klima müssen gemeinsam behandelt werden.
6. Der Grad der Veränderung der Ozeane erfordert sofortiges Handeln.
Ein zentrales Anliegen der WissenschaftlerInnen ist es, unsere Sprache in Bezug auf das Meer zu ändern. „Worte und die Art und Weise, wie wir unsere Verbindung zum Ozean zum Ausdruck bringen, sind heute wichtiger denn je“, schreiben sie. Konkret fordern sie, sich auf den Ozean künftig nur noch im Singular zu beziehen (wie in diesem Artikel umgesetzt), und nicht mehr im Plural. Die Grenzen zwischen dem Atlantischen, Pazifischen, Indischen und Arktischen Ozean seien willkürlich gezogen worden, „in dem Bemühen, das Ordnungsstreben der menschlichen Psyche zu befriedigen“, schreiben sie in dem Report. „Es gibt aber nur einen Ozean“, sagt Dan Laffoley. „Es ist doch ironisch, dass wir über das Land und die Atmosphäre sprechen, aber nicht über den Ozean.“
Diese vermeintliche sprachliche Feinheit mache einen großen Unterschied, wie wir mit dem Ozean umgehen. „Das Problem ist, dass die Bezugnahme auf den Ozean im Plural die falsche Vorstellung vermittelt, dass es, wenn man versehentlich oder absichtlich ‘seinen‘ Ozean überfischt, andere Ozeane gibt, die die Erholung vorantreiben – was aber offensichtlich nicht der Fall ist“, erklärt Dan Laffoley. Unter MeeresaktivistInnen findet diese Forderung bereits großen Widerhall, so forderte etwa die Nichtregierungsorganisation Friends of Ocean Action zum diesjährigen Welttag der Ozeane (weiterhin im Plural) am 8. Juni unter dem Hashtag #DroptheS dazu auf, zum Singular zu wechseln.
„Wir wissen mittlerweile, dass wir den Ozean überall tiefgreifend verändern“, erklärt Dan Laffoley, und führt aus: „Er ist wärmer, säurehaltiger und enthält daher weniger Sauerstoff. Unsere Auswirkungen sind so groß, dass wir die großen Strömungssysteme im Ozean in den letzten Jahrzehnten sogar um 15 Prozent beschleunigt haben.“ Artensterben, Korallenbleiche, das Sterben großer Algenwälder aufgrund mariner Hitzewellen, so viele Hurrikans dieses Jahr, dass die Weltwetterorganisation mit ihrer Benennung bereits im September am Ende des Alphabets angekommen war – all das sind Symptome eines Ozeans, der zusehends aus dem Gleichgewicht gerät. Nur in drei Prozent des Meeres hat der Mensch keine Spuren hinterlassen.
Obwohl das Meer einen entscheidenden Einfluss auf das Klima hat, brauchte auch der 1988 gegründete Weltklimarat einige Zeit, bis er ihn im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung umfassend untersuchte. Erst letztes Jahr veröffentlichte er den „Sonderbericht über den Ozean und die Kryosphäre in einem sich wandelnden Klima“. Dessen stark vereinfachtes Ergebnis war: Der Meeresspiegel steigt, das Wasser erwärmt sich und übersäuert, die Gletscher schmelzen, das Wetter wird extremer – und alles geht schneller, als wir bislang vermutet haben. Diese Woche finden die virtuellen „Ozean- und Klimawandel-Dialoge“ statt, zu denen mehr als 47 Länder und Organisationen ihre Visionen eingereicht haben. Empfehlungen, die sich aus dem Dialog ergeben, werden an die nächste Klimakonferenz COP26 weitergeleitet, die im November 2021 in Glasgow stattfinden soll.
Natürlich gibt es bereits jetzt schon Bemühungen, das Meer zu schützen. So hat sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, mindestens dreißig Prozent des Ozeans bis 2030 unter Schutz zu stellen. Laut dem IUCN sind bislang aber nur 7,4 Prozent geschützt, und schaut man auf dem Marine Protection Atlas etwas genauer hin, dann sieht man, dass nur 2,6 Prozent davon auch tatsächlich implementiert und stark geschützt sind. Auch Dan Laffoley übt Kritik an den Schutzgebieten, da das Fischerei-Management und der Klimaschutz nicht zusammen gedacht würden. „Gute Kohlenstoffspeicher sind viel mehr als Mangroven und Seegras: natürlich entstandene Riffe aus Austern und Muscheln, Sedimente und Schlamm sind fantastische Speicher – und wir haben bodennahe Fischerei auf Ihnen“, sagt er. „Wir haben die Verbindung nicht hergestellt.“ Wie sich diese Systeme am besten schützen lassen, erarbeitete er für den britischen WWF in einem Meinungsstück, das er zeitgleich mit dem Überblicksreport veröffentlichte. Darin fordert er unter anderem, die bestehenden Schutzgebiete auf ihre Fähigkeit, Kohlenstoff zu speichern, zu untersuchen und zu optimieren und neue Schutzgebiete primär nach ihrer Speicherfähigkeit auszuwählen.
„Wenn man mich heute fragt, wie viel des Ozeans wir schützen sollten, dann sage ich: Alles!“, sagt der Meeresforscher. Die bereits vereinbarten dreißig Prozent sollten allein der Natur gehören und als eine Art Lebensversicherung dienen, damit sich der Ozean erholen kann – falls die Menschheit ihn in den anderen siebzig Prozent zu stark geschädigt hat. Zusätzlich zu dem stark geschützten Bereich sollte der Ozean in weiteren zwanzig bis dreißig Prozent der Fläche klimasensibel verwaltet werden. Laffoley mahnt: „Wir kommen mit unserer unnatürlichen Beziehung zur Natur an einen Punkt, an dem wir uns mit Geld nicht mehr herauskaufen können.“