Als der US-amerikanische Anwalt Robert Bilott im Jahr 1999 einen Anruf aus Parkersburg, West Virginia, entgegennahm, konnte er nicht ahnen, dass das kommende Telefonat sein Leben und das von Tausenden anderer Menschen für immer verändern würde. Ein Landwirt bat ihn um juristische Unterstützung: Seit der Chemiekonzern DuPont in der Nähe eine Mülldeponie eröffnet hatte, starben seine Rinder reihenweise.
Bilott ging der Sache nach und trat einen Chemie-Skandal los, der bis heute seine Kreise zieht: Die Chemikalie, mit der die Menschen und Tiere in West Virginia wissentlich vergiftet wurden, ist Teil der Stoffgruppe PFAS: per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen. Diese künstlich hergestellten Chemikalien sind wasser-, fett- und schmutzabweisend. Papiere sind damit beschichtet, ebenso wie Textilien, Kochgeschirr, Teppiche, Zelte, Regenjacken. Auch in Kosmetikprodukten, die wasserfest sein sollen, finden sich die Stoffe. Und von dort gelangen sie in unsere Körper.
Bilotts Kampf für Transparenz und Gerechtigkeit wurde prominent verfilmt, der Hollywood-Streifen "Vergiftete Wahrheit" mit Mark Ruffalo und Anne Hathaway läuft ab Ende der Woche in den Kinos, die Geschichte geht aber weiter. Auch in der EU sind besorgniserregende Industriechemikalien Teil unseres Alltags – und ihre Wirkung auf Mensch und Umwelt bis heute nicht gut erforscht. „Wir müssen wissen, welche Schadstoffe im Menschen überhaupt ankommen. Nur so können wir eine fortschrittliche Chemikalienpolitik machen, die sich an Nachhaltigkeitszielen orientiert und dabei Mensch und Umwelt schützt“, sagte Umweltministerin Svenja Schulze am Freitag zur Eröffnung der internationalen Konferenz „Human Biomonitoring for science and chemical policy“. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) sowie das Umweltbundesamt (UBA) hatten nach Berlin geladen.
Bislang gibt es kaum verlässliche Daten zur Belastung der Bevölkerung mit Chemikalien – und nur wenn man weiß, wie viel von welchen Chemikalien wo drinsteckt, lässt sich Druck für politische Veränderungen aufbauen. „Um problematische Chemikalien wirksam zu regulieren, brauchen wir EU-weit vergleichbare Daten, auch um regionale Unterschiede in der Belastung zu verstehen. Nur dann können wir überprüfen, ob die EU-Chemikalienregulierung wirkt“, so der Präsident des Umweltbundesamtes Dirk Messner auf der Konferenz am Freitag.
Um diese Daten zu erheben, läuft seit 2017 das Human Biomonitoring Projekt HBM4EU, bei dem 30 Länder, die Europäische Umweltagentur und die Europäische Kommission sowie 120 internationale Kooperationspartner, auch aus der Zivilgesellschaft, zusammenarbeiten. Elf Forschungsinstitute und acht Universitäten sind beteiligt, europaweit werden Schadstoffe in Blut und Urin gemessen, um herauszufinden, wie stark die Menschen mit Industriechemikalien belastet sind – allein in Deutschland sind 36 Labore an dieser Mammut-Aufgabe beteiligt.
Der Zwischenstand und die Zukunft des Projektes, das noch bis 2021 läuft, wurde am vergangenen Freitag auf der Konferenz diskutiert – bis 2021 soll die Liste der 18 Stoffe und Stoffgruppen (darunter PFAS, Arsen, Quecksilber und Pestizide) in zahlreichen Tests untersucht und ein Plan für die Fortsetzung des europäischen Biomonitorings vorgelegt werden. Klar ist: es braucht mehr als vier Jahre, um den gefährlichen Chemikalien auf die Spur zu kommen. Denn von der Erkenntnis der Giftigkeit eines Stoffes bis zu seiner effektiven Regulierung in der Umwelt ist es ein langer Weg. Über die Gefährlichkeit einiger Stoffe der Gruppe PFAS wurde in der EU seit 2006 diskutiert, seit dem 4. Juli 2020 darf einer von ihnen in der EU nicht mehr hergestellt werden: die Perfluoroktansäure PFOA, jene Chemikalie, gegen deren Vergiftung sich der Anwalt Robert Bilotts in den USA wehrte.
Verschwunden ist PFOA damit aber noch lange nicht: Der Stoff wird zu den „Ewigen Chemikalien“ gezählt, die sich Jahrzehnte, einige sogar Jahrhunderte in der Natur halten. Sie lagern in den Böden, im Wasser, in alle Regionen der Welt – und auch im menschlichen Körper: Eine repräsentative Untersuchung des Umweltbundesamtes hatte im Juli 2020 gezeigt, dass Kinder und Jugendliche zwischen drei und 17 Jahren zu viele langlebige Chemikalien aus der Stoffgruppe PFAS im Blut hatten. Bei einem Fünftel der Proben sei der kritische Grenzwert bereits überschritten worden. Die Folge kann je nach Dosierung eine stärkere Neigung zu Infekten sein, zu erhöhten Cholesterinwerten und negativen Auswirkungen auf die Kindeskinder führen und – in Zeiten von Covid-19 besonders relevant – die Wirkungen von Impfungen mindern.
Das Problem ist klar: Die Chemikalien sind giftig und sie sind überall. Doch auch wenn die EU die Herstellung verbietet und den Gebrauch stark einschränkt – importierte Sneaker, Textilien oder Küchenutensilien tragen Problemstoffe weiterhin in unsere Mitte.
Um das grundsätzlich zu ändern, braucht es ein noch konsequenteres, schnelleres Vorgehen in der EU. Die Kommission will bis zum 14. Oktober eine neue Chemiestrategie vorstellen, das Ziel benannte Kommissionschefin Ursula von der Leyen so: „Europa muss sich auf das Ziel der Null-Umweltverschmutzung ("zero-pollution") zubewegen. Ich werde eine übergreifende Strategie zum Schutz der Gesundheit der Bürger vor Umweltzerstörung und -verschmutzung vorschlagen, die sich mit der Luft- und Wasserqualität, gefährlichen Chemikalien, Industrieemissionen, Pestiziden und Umwelthormonen befasst.“
Das EU-Parlament hatte bereits vor der Sommerpause ein Umdenken gefordert: Sven Giegold, Grünen-Sprecher im Europäischen Parlament und Mitinitiator der Resolution, erklärt dazu: „Wir Abgeordnete fordern nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der Chemieindustrie. Für den Schutz unserer Gesundheit und Umwelt müssen wir die Chemieindustrie umbauen.“ Statt mühsam einen gefährlichen Stoff nach dem nächsten zu verbieten, sollte das europäische Chemikaliengesetz ganze Stoffgruppen angehen. Nur so könne verhindert werden, dass etwa giftige Umwelthormone wie Bisphenol-A von der Industrie in Windeseile durch nahezu identische Stoffe (wie Bisphenol-F oder S) ersetzt werden. „Die EU-Kommission muss jetzt Kriterien für saubere Chemikalien vorlegen und konkrete Ziele zur Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs festlegen“, sagt Giegold.
Für Umwelt- und Verbraucherschützer klingt das vielversprechend, für die europäische Chemie-Branche wie eine Kampfansage. Und die Chemieindustrie ist gewichtig: Eine Million EU-Bürger arbeiten in diesem Sektor, jährlich macht er einen Umsatz von rund 565 Milliarden Euro, das entspricht einem Anteil von 17 Prozent am weltweiten Chemiemarkt. Die Sorge ist groß, dass Beschränkungen von giftigen Chemikalien zu Wettbewerbsnachteilen führen.
„Es braucht eine Chemiewende“, sagt Ninja Reineke von der Nichtregierungsorganisation Chem Trust Europe. „Die VerbraucherInnen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Produkte sicher und schadstofffrei sind. Und das muss die Chemieindustrie in Zukunft gewährleisten können.“ Reineke sitzt beim europäischen Biomonitoring-Projekt mit am Tisch, die Chemikerin ist für Chem Trust Europe an der Auswahl der Untersuchungsstoffe beteiligt und an der Vermittlung der Ergebnisse in die Politik.
Ihre drei Kernforderungen an die neue EU-Chemikalienstrategie lauten: Erstens, die ähnliche Wirkungsweise verschiedener Stoffe sollte bei ihrer Bewertung sowie bei der Berechnung von täglichen Höchstdosen besser berücksichtigt werden. Zweitens, bedenkliche Stoffe sollten nicht nur einzeln, sondern als Stoffgruppe beschränkt werden: Bei den problematischen PFAS sollte gleich die gesamte Stoffgruppe verboten werden, die Beweislast läge dann bei den Unternehmen, die Ungefährlichkeit nachzuweisen. Und drittens, die Beschränkungsprozesse müssen schneller werden. „Es hat 14 Jahre gedauert, bis PFOA, ein Stoff aus der Gruppe der PFAS, verboten wurde. Das ist zu lange, um den Schutz von Mensch und Umwelt zu gewährleisten.“ Reinekes Erwartungen an die neue EU-Chemikalienstrategie sind hoch – sie hofft, dass der Lobbyismus von Seiten der Industrie, der derzeit im Hintergrund stattzufinden scheint, das Vorhaben nicht auf den letzten Metern verwässert.
Eine nachhaltige Chemiepolitik muss kein Wettbewerbsnachteil sein – sie könnte auch eine Chance sein, die Branche zukunftssicher und krisenfest zu machen. Saubere Chemie „Made in Europe“ als Markenzeichen, das erhoffen sich die europäischen Umwelt- und Verbraucherschutzverbände.
Weder im Hollywood-Thriller „Vergiftete Wahrheit“ noch im echten Leben gibt es für diese Geschichte ein klassisches „Happy End“: Der kämpferische Anwalt Bilott erstritt zwar über die Jahre Entschädigungen für die Opfer der Vergiftung durch DuPont, doch wirkliche Gerechtigkeit gibt es seinem Empfinden nach nicht: Der Gedanke an das rücksichtslose Vorgehen des Chemieriesens macht Bilott bis heute wütend: „Wir haben den Behörden 2001 davon (Auswirkungen von PFOA, Anmerkung der Redaktion) erzählt, und sie haben im Grunde nichts getan. Es sind Jahrzehnte vergangen, in denen dieses Zeug weiterhin verwendet wurde und im ganzen Land weiterhin im Trinkwasser enthalten ist. DuPont geht einfach still und leise auf die nächste Substanz über. Und in der Zwischenzeit bekämpfen sie jeden, der dadurch verletzt wurde“, sagte er gegenüber dem New York Times Magazine.
Ob sich an der Verantwortung für giftige Stoffe in der Umwelt in der EU zukünftig grundlegend etwas ändern wird, ob am 14. Oktober das „Happy End“ einer europäischen Chemiewende bekannt gegeben wird, das liegt bis auf Weiteres in den Händen der EU-Kommission.