Die meisten Großstädte haben das gleiche Problem: Zu den Stoßzeiten schieben sich die Autos als zäh fließende Blechlawinen durch ihre Straßen, die Parkplatzsuche wird zur Geduldsprobe, aus eigentlich kurzen Autowegen werden oft stundenlange Odysseen. Doch immer mehr Städte versuchen, das Problem auf eine Weise zu lösen, die zunächst widersinnig erscheint: Sie nehmen den Autos Platz weg. Die Städte ordnen sich nicht länger den Autos unter, sondern die Autos den Städten – ein Paradigmenwechsel. Zumindest haben viele Bürgermeister von Wien bis Bogotá das zu ihrem Ziel erklärt.
Dass dieser Wandel dringend nötig ist, zeigt sich in der Corona-Pandemie wie in einem Brennglas. Denn nun, wo die Stadtbewohner in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind und zur Erholung nicht in den Urlaub fahren können, muss die Stadt auf einmal sehr viel mehr für sie leisten. Mehr denn je brauchen die Menschen Möglichkeiten, innerhalb ihrer Stadt nicht nur arbeiten zu können, sondern sich auch zu erholen – ohne lange Fahrten. Bislang ist das in den meisten Großstädten kaum möglich, denn zum einen fehlen dafür die Orte, zum anderen erschweren schlechte Luft und Lärm das Entspannen. Laut einer im September veröffentlichten Studie der Europäischen Umweltagentur sind diese beiden Faktoren sogar die größten Bedrohungen für die Gesundheit der Einwohner der Europäischen Union. Mehr als 400.000 Menschen sterben demnach jährlich an den Folgen von Luftverschmutzung unter anderem infolge des Verkehrs, und die Lärmbelastung verursacht rund 12.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr. Die Städte müssen sich ändern, wollen sie ihre Bewohner nicht länger krank machen.
„Wenn der Umkreis, in dem man sich bewegen kann, auf einmal stark begrenzt ist, wird natürlich die Qualität des eigenen Stadtviertels ganz relevant“, sagt Daniel Moser, Leiter der Transformative Urban Mobility Initiative (TUMI). Darin sind elf Partner zusammengeschlossen, darunter das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die UN-Habitat. Gemeinsam wollen sie die Mobilität zum Wohle von Mensch und Natur ändern. Daniel Moser hat beobachtet, wie viele Menschen durch die Beschränkungen der Pandemie feststellten: „Da, wo ich lebe, gibt es gar nicht das, was ich für meinen täglichen Bedarf brauche.“ Die Coronakrise führt uns die Schwachstellen der Stadt vor Augen, über die wir bislang hinweggesehen haben.
So bekommen Projekte, die Städte lebenswerter machen sollen, auch mehr Rückendeckung von der Bevölkerung, erklärt Daniel Moser. Denn die hat ihr Verhalten durch die Pandemie radikal geändert: Weil viele Menschen zu Hause arbeiteten, ging der Autoverkehr drastisch zurück – mit dem erfreulichen Nebeneffekt, dass die Straßen sicherer wurden. New York etwa stellte am 12. Mai einen Rekord auf: 58 Tage lang war kein Passant im Straßenverkehr getötet worden. Aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus brach aber auch die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs ein. Die Berliner Verkehrsbetriebe etwa verzeichneten ein Minus von rund siebzig Prozent beim Verkauf von Fahrscheinen, der Münchner Verkehrs- und Tarifverbund büßte gar bis zu 85 Prozent ein. Viele Verkehrsbetriebe mussten ihr Angebot ausdünnen, um nicht pleitezugehen. Ähnlich erging es den Carsharing-Anbietern: Im März brach die Nutzung um fast die Hälfte ein. Auch Lime, der weltweit größte Verleiher von E-Scootern, musste sein Angebot etwa in Frankreich, Großbritannien, den USA, Brasilien und Deutschland stark reduzieren oder ganz einstellen. Sein Konkurrent Bird zog sich komplett aus dem europäischen Markt zurück.
Der große Gewinner der Krise ist das Fahrrad. Die Fahrradverkäufe schossen allerorten in die Höhe, Italien etwa förderte das mit Kaufprämien. Auf den erhöhten Radverkehr reagierten viele Städte mit temporären Pop-up-Radwegen, die auf gesperrten Auto-Fahrspuren eingerichtet wurden. Berlin etwa machte das auf rund zwanzig Kilometern, allerdings entbrannte um die Fahrradwege wegen der Klage eines Abgeordneten der AfD ein politischer Streit: Zunächst hatte das Verwaltungsgericht einen Rückbau der Radwege angeordnet, in einem Eilverfahren legte der Senat dagegen Beschwerde ein, worin das Oberverwaltungsgericht ihm Recht gab. Die Radwege dürfen also vorerst bleiben.
Viel schneller ist da Paris. Bürgermeisterin Anne Hidalgo plant in der französischen Hauptstadt 650 Kilometer neue Radwege, und das ist längst nicht alles: Das neue Radwegenetz ist Teil ihres großen Plans „Ville du quart d’heure“ – die Stadt der 15 Minuten. Hidalgo möchte Paris so umgestalten, dass jeder Einwohner von seinem Wohnort aus alles Wichtige in 15 Minuten mit dem Rad erreichen kann. Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten, Kindergärten, Ärzte, Parkanlagen, Kultur- und Sportangebote sollen künftig überall dezentral verstreut sein – Paris soll eine Stadt der kurzen Wege werden. Bis 2024 schon will Hidalgo das Fahrradnetz ausgebaut haben, außerdem verspricht sie eine grünere Stadt: „Wir werden bei der Geburt jedes kleinen Parisers einen Baum pflanzen“, kündigte sie vor der Kommunalwahl im März an, bei der sie in ihrem Amt bestätigt wurde. Geht ihr Plan auf, dann ist das Paris von morgen nicht nur lebenswerter, sondern auch klimafreundlicher.
Während der Plan auf viel Zustimmung stößt, stöhnen die Pariser aber auch unter den vielen Baustellen, die für die Umgestaltung nötig sind. Kritiker wie die Journalistin Alice Delaleu werfen Hidalgo vor, die ärmere Bevölkerung der Randviertel aus dem Zentrum auszuschließen: „Durch die Schaffung der Stadt der Viertelstunde baut die Stadt neue Mauern und versinkt im Egoismus“, schreibt sie in dem Online-Magazin Chroniques d‘architecture. Nachtwächter, Haushälter oder Bauarbeiter, die im wohlhabenden Zentrum arbeiten, aber in den ärmeren Randbezirken wohnen, seien bei Hidalgos Vision nicht vorgesehen. Kann die Utopie trotz der Widerstände also Wirklichkeit werden? „Die 15-Minuten-Stadt ist vollkommen realistisch“, sagt Daniel Moser. Der Platz müsse einfach anders verteilt werden: „Wenn man sich anschaut, wie viel Fläche für Parkraum genutzt wird – da ist viel Potenzial.“
Seine Hoffnung ist, dass die vielen Pop-up-Projekte auch außerhalb von Paris in dauerhafte Lösungen übergehen werden. So ist etwa der Hamburger Jungfernstieg seit letztem Freitag weitgehend für Autos gesperrt, richtig umgebaut werden soll er aber erst ab 2022. Mit solchen Projekten ließen sich gut Praxiserfahrungen sammeln, die man beim tatsächlichen Umbau dann berücksichtigen könne, erklärt Moser. „Das Planungsparadigma wird umgedreht.“
Vorbilder für eine sozial- und umweltverträgliche Stadtplanung gibt es einige: Die norwegische Hauptstadt Oslo begann 2015 Autos Schritt für Schritt aus dem Zentrum zu verbannen, der öffentliche Nahverkehr wurde ausgebaut und die Verbreitung von Leihfahrrädern gefördert. In Madrids Innenstadt dürfen seit 2018 nur noch Anwohner und Fahrer von Hybrid-, Elektro- und Gasfahrzeugen fahren, und das Zentrum der spanischen Stadt Pontevedra ist schon seit zwanzig Jahren praktisch autofrei (siehe Reportage im Greenpeace Magazin 3.19). Für die wenigen Autos von Anwohnern oder Lieferverkehr, die noch erlaubt sind, gilt Tempo 30, Fußgänger haben immer Vorrang.
Daniel Moser findet: „Die Städte brauchen die Freiheit zu experimentieren.“ Nur mit einem Mix aus der Verkürzung von Wegen, der Verlagerung vom Auto auf effizientere Verkehrsträger und der Elektrifizierung der verbleibenden Autos lasse sich die Stadt von morgen gestalten.