Es gab Zeiten, da empfand man das nukleare Wettrüsten als die größte Bedrohung der Menschheit. Heute ist es ein Problem, das man vertagen kann. Eigentlich hätten in diesen Tagen die Vertragsstaaten des Atomwaffensperrvertrags im UNO-Hauptquartier in New York zusammenkommen sollen. Dort hätten sie die Umsetzung des Vertrags überprüft, so wie sie das alle fünf Jahre tun. Nicht aber im Jahr der Covid-19-Pandemie, der neuen größten Bedrohung der Menschheit. „Angesichts der Situation im Zusammenhang mit dem globalen Coronavirus“ müsse die Konferenz in den Januar nächsten Jahres verlegt werden, verkündete Gustavo Zlauvinen, Präsident der Überprüfungskonferenz, in einem offiziellen Schreiben. „Es ist möglicherweise der größte Test unserer Zeit“, sagte der Argentinier im Bezug auf das Virus in einer Videobotschaft an die Staatengemeinschaft. Damit sagte er indirekt auch: Die Pandemie ist jetzt eine größere Herausforderung als die nukleare Abrüstung.
Es wäre eine Konferenz mit historischem Gewicht gewesen, denn in dieses Jahr fallen gleich zwei Jahrestage: Das Inkrafttreten des Atomwaffensperrvertrags jährt sich zum 50. Mal, die unbefristete Verlängerung zum 25. Mal. Vor fünfzig Jahren war die Welt noch zweigeteilt: Der Vertrag wurde mitten im Kalten Krieg verabschiedet, als die USA und die Sowjetunion auf Atomwaffen zur militärischen Abschreckung setzten. Irland hatte der UN-Generalversammlung ein Übereinkommen gegen die Weiterverbreitung von Nukleartechnik schon 1961 vorgeschlagen. Und es war der Präsident der USA, zu der Zeit John F. Kennedy, der dann sagte: „Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind lebt unter einem nuklearen Damoklesschwert, das an einem seidenen Faden hängt, der jederzeit zerschnitten werden kann durch Zufall, Fehlkalkulation oder Wahnsinn.“ Es folgte zunächst 1963 das Moskauer Atomteststoppabkommen, nach dem Kernexplosionen zu Testzwecken nur noch unterirdisch und nicht mehr in der Atmosphäre, unter Wasser oder im Weltraum durchgeführt werden durften.
Durch die Unterschriften der Atommächte USA, Sowjetunion und Großbritannien und die vierzig weiterer Staaten trat 1970 dann der Atomwaffensperrvertrag in Kraft. Erst 1992 unterzeichneten ihn auch die Atommächte China und Frankreich. Er teilt sich in drei Säulen auf: Erstens verpflichten sich Länder mit Atomwaffen, diese nicht an andere Länder abzugeben. Staaten ohne Atomwaffen versprechen, dass sie nicht versuchen, in ihren Besitz zu gelangen. Zweitens beabsichtigen die Atomstaaten einen kompletten Abbau ihrer Waffen. Und drittens arbeiten die Staaten bei der zivilen Nutzung der Atomtechnologie zusammen. Die Einhaltung der Ziele überwacht die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) mit Sitz in Wien. Einen verbindlichen Zeitplan für die Umsetzung der Ziele gibt es allerdings nicht.
Das Bild fünfzig Jahre später ist dementsprechend ernüchternd: Zu den ursprünglichen Atommächten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China sind Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel hinzugekommen. Sie brechen den Vertrag nicht, denn sie haben ihn erst gar nicht unterzeichnet, beziehungsweise sind im Falle von Nordkorea 2003 wieder ausgestiegen. Bei dem Land ist unklar, wie einsatzfähig dessen Atomwaffen tatsächlich sind, Israel hat seine Atomwaffen zudem nie offiziell bestätigt. Über ihre Atomprogramme halten sich alle Staaten äußerst bedeckt, aktuelle Zahlen stützen sich neben Regierungserklärungen auf Informanten aus Insiderkreisen. Nach Schätzungen des Internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI von Anfang 2019 gibt es 13.865 Atomwaffen auf der Welt. 6185 davon befinden sich vermutlich in amerikanischer Hand, 6500 in russischer. Das ist zwar weitaus weniger als die rund 70.300 Atomwaffen, die zu Zeiten des Kalten Krieges noch in Umlauf waren. Von einer vollständigen Abrüstung sind die Atomstaaten aber immer noch weit entfernt. Und sie scheinen es auch erstmal nicht vorzuhaben, denn derzeit sind sie dabei, ihre Arsenale zu modernisieren.
Zudem gilt zu befürchten, dass auch der Iran ein eigenes Atomwaffenprogramm anstreben könnte. Das Atomabkommen von 2015 mit Russland, Deutschland, den USA, Frankreich und Großbritannien sollte das verhindern. Aber die USA kündigten das Abkommen 2018 mit der Behauptung auf, der Iran halte sich nicht an die vereinbarte Abrüstung. Der Iran kündigte seinen Rücktritt aus den Verpflichtungen des Vertrags an, die Europäer versuchen seither den Streit zu schlichten.
In der Theorie hingegen ist das Ziel einer atomwaffenfreien Welt äußerst populär. Unter anderem für sein Streben danach erhielt der ehemalige US-Präsident Barack Obama 2009 den Friedensnobelpreis. Kritiker wie der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Harold Brown oder der deutsche Politikwissenschaftler Christian Hacke sehen in der nuklearen Abschreckung zwar immer noch die Absicherung der freien Welt gegen Terroristen und Diktatoren, jedoch sind sich die meisten Experten einig, dass diese Einschätzung überholt ist. Der Abwurf einer Atombombe würde militärische Gegenschläge und eine internationale Verurteilung nach sich ziehen, die wohl kein Land bereit ist zu riskieren.
Trotzdem betreiben die Atommächte die Abrüstung nur schleppend. Den Kernwaffenteststopp-Vertrag etwa, der von der UN-Abrüstungskonferenz ausgearbeitet und 1996 von der UN-Generalversammlung angenommen wurde, ist noch nicht in Kraft. Er würde alle Atomwaffentests verbieten. Er scheitert aber an den USA und China, die ihn noch immer nicht ratifiziert haben. Mit dem „Neuen START-Vertrag“ haben die USA und Russland sich zwar 2010 darauf geeinigt, ihre Arsenale auf jeweils maximal 1550 Sprengköpfe zu reduzieren. Aber der Vertrag läuft dieses Jahr aus, ohne dass das Ziel erreicht wurde. Auch der INF-Vertrag – vom deutschen Verteidigungsministerium als „wichtiger Baustein europäischer Sicherheit“ bezeichnet – wurde letztes Jahr von der US-Regierung aufgekündigt, weil Russland ihrer Ansicht nach gegen ihn verstoßen hatte. Er sah die Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kürzerer Reichweite von 500 bis 1000 Kilometern sowie mit einer mittleren Reichweite von 1000 bis 5500 Kilometern vor.
Wie ein schnelles Ende des Atomwaffenzeitalters aussehen könnte, arbeitete derweil die internationale Initiative „Global Zero“ aus. Ihr haben sich seit der Gründung 2008 hunderte politische, militärische und zivile Führungspersönlichkeiten und Hunderttausende Bürger angeschlossen. Ihr Plan sieht eine stufenweise Vernichtung aller Atomwaffen bis 2030 vor. In fünf Schritten soll die Zahl der Atomwaffen reduziert werden, begleitet von der Unterzeichnung eines neuen Vertrags, der den nuklearen Erstschlag verbietet. „Bis 2030 könnten wir alle Nuklearwaffen aus dem Militärdienst nehmen und sie in den Mülleimer der Geschichte werfen“, konstatiert die Bewegung.
Doch während die Welt angesichts der Pandemie innehält, tun das auch die Bemühungen zur Abrüstung. „Aber machen Sie keinen Fehler“, sagte Gustavo Zlauvinen noch in seiner Video-Botschaft. „Die Gefahren von Atomwaffen bleiben.“