Das Dorf Prötzel am nördlichen Rand des Naturparks Märkische Schweiz ist gesäumt von Feldern, Wald und viel Platz. Der Ort ist nur knapp eineinhalb Stunden von Berlin entfernt und doch so anders als die pulsierende Großstadt: keine in den Himmel wachsenden Häuser, kein Autolärm, kein pandemiebedingter Dichtestress. Und doch ist hier einiges in Bewegung: auf dem größten Vierseitenhof Brandenburgs mit seinem Gutshaus, Backhaus, dem Pferdestall und der Schmiede entsteht derzeit das Hofprojekt Prädikow, das genossenschaftliches Wohnen und Arbeiten vor Ort verbindet. Hier sollen, wenn im Verlauf des Jahres 2021 die letzten Bauarbeiten abgeschlossen sind, die ausgebaute „Dorfscheune“ zum neuen Mittelpunkt des Ortes werden: Mit einer kleinen Café-Kneipe, mit Dorffesten, Kino und Konzertabenden und regelmäßigen Sportangeboten für Hof- und Dorfbewohner. Und: in der Scheune entsteht ein Coworking- Raum. „Für Menschen, die im Homeoffice arbeiten, kann so ein Schreibtisch in einem schönen Dorf mitten auf dem Land vielleicht ein entscheidender Impuls sein, das Stadtleben zu überdenken“, sagt Philipp Hentschel, einer der Initiatoren des Projekts.
In Großstädten ist das „Coworking“ schon fester Bestandteil der Arbeitswelt. 2016 sollen es laut dem Beratungsunternehmen Emergent Research weltweit rund 11.000 Coworking-Anbieter gegeben haben, für 2020 wurde eine Verdopplung des Angebots prognostiziert,die Pandemie könnte diesen Trend noch beschleunigen.
Coworking bedeutet erstmal nur, einen Platz an einem Tisch zu mieten. Dazu teilt man sich Drucker, Internet und ein Großraumbüro mit Leuten, die für ihre Arbeit nur ihren Laptop brauchen. Das Coworking auf dem Land wartet nun mit einem weiteren Versprechen auf: Leben und arbeiten im Grünen, ohne den Anschluss an die Welt zu verpassen – und vor allem ohne das oft umweltschädigende Pendeln.
Günstiger arbeiten und leben
Seit ein paar Jahren nun entstehen an vielen abgelegenen Orten neue Wohn- und Arbeitsräume – wie auf Hof Prädikow. „Ich fliehe nicht aus der Stadt, ich mag das Leben dort. Meine Vision ist es, die Qualitäten beider Sphären zu verbinden“, sagt Philipp Hentschel. Er ist in Brandenburg aufgewachsen, wohnt mittlerweile in Berlin und zieht noch in diesem Jahr auf den Hof Prädikow. Hentschel ist Teil des „Netzwerk Zukunftsorte“, das integrierte Wohn- und Arbeitsprojekte in Brandenburg vorantreibt. Diese Orte sollen, so schreibt das Netzwerk in seiner Vision für 2030, Magnete für den weiteren Zuzug von Fach- und Arbeitskräften und Kreativschaffenden sein.
Dass die Landflucht ein echtes Problem ist, zeigen Zahlen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Das Institut prognostiziert, dass einige Landkreise im südlichen Brandenburg, in Sachsen-Anhalt oder in Thüringen bis 2035 rund ein Viertel ihrer heutigen Bewohner verlieren werden. Hentschel ist davon überzeugt, dass Projekte wie der Hof Prädikow ein Teil der Lösung sein können, die Verödung des ländlichen Raums aufzuhalten. „Wenn Stadt und Land durch solche Projekte enger zusammenrücken, könnte das für beide Seiten fruchtbar sein“, sagt er. Leerstand könnte neu und anders genutzt werden, neue dörfliche Strukturen entstehen und potenziell auch Arbeitsplätze – erste Voraussetzung, um den Wegzug in die Großstädte aufzuhalten.
In Brandenburg gibt es eine ganze Reihe solcher Orte – wie das „Coconat“ in einem 350 Jahre alten Gutshof in der Nähe von Bad Belzig: ein länglicher Coworking-Raum mit Übernachtungsmöglichkeiten. Fünfzig „Coworker“ finden hier Platz. Außerdem ist der Hof Treffpunkt für den Ortsbeirat, für lokale Vereine und Lokalität für das Dorffest. Oder das Gut Stolzenhagen, ein genossenschaftliches Wohnprojekt in einem historischen Gutsgelände am südlichen Rand der Uckermark, das Platz für offene Werkstätten, Veranstaltungen und einen gemeinschaftlich genutzten Arbeitsbereich bietet.
„Coworking Spaces nehmen in Brandenburg sichtbar an Bedeutung zu – und zwar weit über Potsdam hinaus“, sagt Steffen Kammradt, Sprecher der Geschäftsführung der Wirtschaftsförderung Land Brandenburg gegenüber der Berliner Zeitung. Vor allem die florierende Gründerszene des Landes suche ein Umfeld, in dem sie mit Gleichgesinnten außerhalb der Großstädte arbeiten kann. Denn es lohnt sich finanziell, vor den Stadttoren an einem Schreibtisch zu sitzen: Während man in Berlin schon mal 350 Euro für einen Tisch in einem schicken Großraumbüro zahlt, liegt ein Arbeitsplatz auf einem schönen alten Stadtgut an der Landesgrenze Berlin-Brandenburg bei 160 Euro pro Monat.
Die Idee des Büros außerhalb der Stadt ist vor allem für Selbständige interessant, wie die Trendstudie der Bertelsmannstiftung zu „Coworking im ländlichen Raum“ vom November 2020 zeigte, aber auch flexibel arbeitende Angestellte (35 Prozent) begeistern sich für die neue „Landarbeit“. Viele sind in kreativen Berufen, im Management oder in der IT tätig. Die größte Gruppe der „Coworker“ ist zwischen 25 und 39 Jahre alt.
Probewohnen auf dem Land
Dabei ist Coworking-Projekt nicht gleich Coworking-Projekt: In größeren Städten und Hochschulstandorten funktionieren einfache Gemeinschaftsbüros, entlang beliebter Pendelstrecken entwickeln sich funktionale Arbeitsorte. Auf den Dörfern hingegen geht man noch einen Schritt weiter und verbindet Arbeiten und Leben .
Dass es manchmal einfach auf einen Versuch ankommt, zeigt das Projekt „Summer of Pioneers“, das im letzten Jahr zum ersten Mal stattfand. In Wittenberge – einem Städtchen an der Elbe im Nordwesten Brandenburgs – stellte die Gemeinde Räume und Häuser zur Verfügung, ein Team richtete ein Coworking-Büro ein und lud zwanzig Menschen ein halbes Jahr zum Probewohnen und -arbeiten auf dem Land ein. Aus dem Sommer in Wittenberge wurde ein Jahr und von den Teilnehmenden blieben am Ende 15 ganz dort. Für die Gemeinde scheint sich die Einladung gelohnt zu haben.
Nun startet das Projekt 2021 erneut: in der Kleinstadt Homberg (Efze) in Hessen und im südwestfälischen Altena. Der Journalist Jonathan Linker ist einer der beiden Initiatoren des Summer of Pioneers. „15 Menschen mit Ideen und dem Mut, etwas Neues zu machen, können sehr viel bewegen, besonders auf dem Land“, sagt der 37-Jährige, der selbst aus der Region stammt.
Projekte wie der „Summer of Pioneers“ könnten eine Brücke zwischen Stadt und Land sein und einen Impuls für einen Strukturwandel geben, sagt Linker. „Viele Leute träumen vom Leben und Arbeiten auf dem Land. Die Digitalisierung und die Realitäten der Post-Corona-Arbeitswelt machen das heute für viel mehr Menschen als bisher möglich. Mit dem Summer of Pioneers demonstrieren wir dieses Potenzial.“ Hundert Bewerbungen sind bisher für der „Summer of Pioneers“ in Homberg eingegangen, in wenigen Monaten können einige von ihnen in die Coworking-Spaces rund um den Marktplatz der Stadt einziehen. Die Gemeinde fördert das Projekt, geplant sind Diskussionsveranstaltungen und Unternehmensbesuche, um Alteingesessene und Neuankömmlinge miteinander ins Gespräch zu bringen.
„Das Gelingen solcher Projekte hängt von der Haltung ab – sowohl der Menschen im Dorf als auch der Neuankömmlinge“, sagt auch Philipp Hentschel vom „Netzwerk Zukunftsorte“. „Damit das Klischee der grünen Städter und der konservativen Dörfer aufgebrochen wird, müssen sich die Menschen aufeinander einlassen, ihre Filterblasen verlassen“, sagt er. Städter müssten verstehen, dass es auf dem Dorf Strukturen gebe, die über die Jahrzehnte gewachsen seien und für die Menschen funktionierten. „Wer aufs Land zieht und dort alles anders machen und die Leute belehren will, der wird einen schweren Stand haben“, sagt Hentschel. Umgekehrt zeige sich aber auch: Gelungene Projekte wie Gut Stolzenhagen oder das Coconat leisten einen Beitrag zu einer vielfältigen Gesellschaft, bringen Menschen an einen Tisch, die sonst kaum Kontakt hätten. Wo die Programmiererin und der Landwirt in einer Dorfscheune gemeinsam feiern, haben Populismus und Rechtsextremismus weniger Raum, glaubt Hentschel. Noch ein Grund mehr, den Traum vom Leben und Arbeiten auf dem Land in die Tat umzusetzen.