Aufregend und überraschend muss Protest heute sein. Bei spektakulären Bildern ist die Aufmerksamkeit der Presse garantiert. Und darum geht es. Denn nur mithilfe der Medien und der so geschaffenen Öffentlichkeit kann Protest seine eigentliche Funktion erfüllen: Die versteckten oder sich gerade erst entwickelten Probleme und Defizite einer Gesellschaft aufzeigen. „Protest muss die verkrusteten Strukturen eines Systems aufbrechen“, sagt Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Soziologe forscht hier zu sozialen Bewegungen und politischem Protest. „Protest ist das Frühwarnsystem einer Gesellschaft“, sagt er.
So reagieren laut Rucht soziale Bewegungen sehr schnell und sensibel auf Missstände, welche die große Politik häufig übersieht oder ignoriert. Um gehört zu werden, unternehmen Protestgruppen und soziale Bewegungen immer größere Anstrengungen. Denn heute braucht es mehr als drei geworfenen Tomaten, die am Anfang der zweiten Frauenbewegung 1968 standen. Inzwischen ist das Clownskostüm en vogue oder man denkt sich etwas noch nie Gesehenes aus.
Wie das Künstlerkollektiv, das 2017 als „1000 Gestalten“ durch Hamburg lief. Im dramaturgisch passenden Moment rissen sie sich die grauen und trostlosen Anzüge vom Leib und es kam ein buntes Farbenmeer zum Vorschein. Das schafft tolle Bilder – und nennt sich „symbolischer Protest“. Dieser zielt auf Aufmerksamkeit – der Medien, der Öffentlichkeit, der Politik. Und das zu Recht. „Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt“, schrieb der Politologe Joachim Raschke schon 1985.
Protest funktioniert durch Symbole
Und das haben sich auch die häufig schwarz vermummten Autonomen zu Herzen genommen, die auf linken Demonstrationszügen als sogenannter Schwarzer Block laufen. „Das sind ja nicht nur Deppen, die da mitlaufen“, sagt Protestforscher Rucht. „Da sind teilweise promovierte Politikwissenschaftler dabei. Und die sind sich der Kraft ihrer Symbole bewusst und setzen diese ein.“ Rucht bezieht sich auf die schwarz-uniforme Kleidung, die Vermummung, die Auseinandersetzung mit der Polizei – das sieht er als Inszenierung und Spektakel. „Und auch wenn die wissen, dass sie die Mehrheitsgesellschaft nicht auf ihrer Seite haben, sagen sie mit ihrem Auftreten: Wir haben nicht die Kraft das System zu ändern, aber wir haben den Willen und die Intention, das zu tun,“ so Rucht. Und dieser Wille zur Systemänderung bleibe als Signal erhalten.
Dieser Symbol-Protest zieht sich durch die Geschichte sozialer Bewegungen: Schon Mahatma Ghandi demonstrierte in Indien gegen zu hohe Salzsteuern und meinte damit eigentlich die Kolonialpolitik Englands. Umweltaktivisten, die sich an einen Baum klammern, geht es auch nicht um den einzelnen Baum, sondern um Naturschutz, Artenvielfalt, Klimawandel und Umweltpolitik. Die Symbolgewalt sorgt dafür, dass die Bilder hängenbleiben. Ob dadurch auch die inhaltlichen Forderungen von der Politik aufgegriffen werden, ist hingegen nicht garantiert. Je radikaler die Inhalte sind, desto geringer wird hier die Wahrscheinlichkeit – das trifft natürlich besonders auf Proteste zu, die explizit die Abschaffung der etablierten Hierarchien fordern.
„Die Protestierenden imaginieren Utopien, für die sie dann kämpfen”, sagt Dieter Rucht. Aber die erwirkten Reformen blieben meist stark hinter den ursprünglichen Idealen zurück. „Das gesamte institutionelle Gefüge in Deutschland ist im Kern unverändert – trotz der sehr aktiven Studentenbewegung 1968“, so der Protestforscher. Dennoch habe die Bewegung zu sichtbaren Änderungen in unserer Gesellschaft geführt. „Im Kleinen hat sich seit 68 relativ viel getan durch linke, umweltpolitische Proteste und die Frauenbewegung“, sagt Dieter Rucht. Als Beispiele dienen ihm, dass Abtreibungen seit Mitte der 1970er Jahre strafffrei bleiben, dass seit den 1980er Jahren der Gesetzgeber Bürgerentscheide als Instrument der direkten Demokratie ausgebaut hat und dass 2006 das Antidiskriminierungsgesetz erlassen und das Klagerecht von Umweltverbänden eingeführt wurde.
Reformen statt Revolution
Und diese Erfolge der sozialen Bewegungen zeigen auch, wie geschmeidig und anpassungsfähig unser Politik- und Wirtschaftssystem ist. Protest werde teilweise assimiliert und dadurch ungefährlich, so Dieter Rucht. Wenn Protest bestimmte Fehlentwicklungen innerhalb einer Gesellschaft benennt, kann die Politik diese korrigieren. Daraus gehe das Gesamtsystem gestärkt hervor. „Wenn das System partiell auf Kritik reagiert und an einzelnen Stellen nachgibt, dann nimmt das den Druck aus dem Kessel – und zwar bevor das Ganze überkocht“, sagt der Forscher. Und das ist mitunter ein Effekt, den gerade radikalere Protestbewegungen gar nicht beabsichtigen. „Die wenigsten kapitalismuskritischen Gruppen wollen ja zur Stabilisierung des kapitalistischen Systems beitragen,“ so Rucht.
Aber auch wenn sich diese systemstabilisierende Grundfunktion des Protests über die Jahrhunderte kaum gewandelt hat, macht die Protestforschung heute zwei grundsätzlich neue Aspekte aus. Der eine sind die Erscheinungsformen des Protests. Eine immer schnellere, bildhungrige und um Aufmerksamkeit konkurrierende Medienlandschaft braucht stimmige Bilder, überraschende Performances und gut laufende Geschichten.
Der andere Aspekt ist das generelle Image von Protest. Und das hat sich über die Jahrzehnte fast ins Gegenteil verkehrt. „Früher wurden Protestierende als unzufriedene Querulanten oder gleich als Kommunisten wahrgenommen – zumindest aber als Störenfriede einer als gut und richtig geltenden Ordnung“, sagt Dieter Rucht. Das wandelte sich schon 1969 als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in der Regierungserklärung sagte, man wolle „mehr Demokratie wagen“. „Und das hieß auch abweichende Stimmen vom politischen Mainstreams in die Regierungsentscheidungen miteinbeziehen“, so Rucht.
Mittlerweile ist es gesellschaftlicher Konsens, dass Protest, soziale Bewegungen und die Anliegen von Minderheiten ein wichtiger Bestandteil des demokratischen Systems sind. „Eine Gesellschaft kann phasenweise, allerdings kaum auf Dauer, ohne Protest funktionieren,“ sagt Dieter Rucht. So könnten äußere Umstände, wie beispielsweise ein Krieg, andere Problemprioritäten schaffen. Interne gesellschaftliche Probleme lägen dann erst einmal auf Eis. Aber auf Dauer gehe es in modernen Gesellschaften einfach nicht ohne. Rucht appelliert deshalb: „Notwendige gesellschaftliche Veränderungen passieren in der Regel nicht von selbst – hierfür braucht es Protest und soziale Bewegungen.“