Ein Gedankenexperiment: Sie können von einem sinkenden Schiff entweder Menschen, Hunde oder Schweine retten. Für welche Gruppe entscheiden Sie sich? Ändert sich Ihre Wahl, wenn Sie nur einen Menschen oder aber mehrere Hunde und Schweine retten könnten? Sagen wir, ein Mensch oder zehn Schweine? Ein Mensch oder hundert Hunde?
Wenn Sie erwachsen sind, dann haben Sie sich vermutlich immer für den Menschen entschieden, egal wie viele Hunde oder Schweine Sie hätten retten können, wie ein US-amerikanisches Experiment zeigte. Das nennt man Speziesismus – Tiere gelten uns Menschen als weniger wertvoll. Kinder machen das übrigens weniger: Im Experiment entschieden sie sich häufig dafür, die Tiere zu retten. Wir diskriminieren Tiere also nicht automatisch, wir lernen es.
Ein Bündnis internationaler Tierrechtsgruppen findet, dass wir das wieder verlernen sollten. Sie riefen kürzlich zum achten Welttag für das Ende des Speziesismus auf, in Deutschland mobilisierten die Tierrechtsgruppen PETA und ARIWA zu Protesten in mehreren Städten. Sie sehen ihr Anliegen gleichauf mit dem Kampf gegen Rassismus und Sexismus.
Ist das angemessen? Sollten Tiere eigene Rechte bekommen? Darüber sprach das Greenpeace Magazin mit dem Anthropologen und Primatologen Volker Sommer. Er ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London, seit Jahrzehnten erforscht er Ökologie und Verhalten wilder Primaten in Afrika und Asien und berät die UN als Menschenaffen-Experte.
Was verstehen Sie unter Speziesismus?
Der Begriff wurde vor einem halben Jahrhundert vom britischen Tierrechtler Richard Ryder gekürt und bezeichnet die eigentlich arrogante Haltung, dass Menschen etwas Besseres als Tiere sind und dass unser Wohlergehen Vorrang hat. Dieser Art von Anthropozentrismus, der unsere eigenen Interessen über die anderer Lebewesen stellt, macht es uns beispielsweise einfacher, Tiere als Besitztum zu begreifen und massenhaft zu töten, ob nun in Fleischfabriken oder bei der Ausbeutung der Ozeane.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Speziesismus und anderer Ausgrenzung, wie sie etwa zwischen Menschen vorkommt?
Ja, die Abwertung anderer Kreaturen ist nur eine Variante jener Binnenmoral, die andere Menschen herabwürdigt. Das zieht innerhalb unserer eigenen Art eine ganze Palette von „Ismen“ nach sich, etwa religiösen Fundamentalismus, Rassismus, Nationalismus, Sexismus oder Heterosexismus. Ab dem Zeitalter der Aufklärung wurden solche Formen von Diskriminierung allerdings zunehmend in Frage gestellt und oft aufgehoben, zumindest legal. Die gegenwärtige Forderung, auch die Interessen von Nichtmenschen stärker zu berücksichtigen, ist somit eine logische Fortsetzung anderer leidenschaftlicher Auseinandersetzungen – beispielsweise, ob Andersgläubige wirklich kriegerisch auszurotten sind, ob dunkelhäutige Personen gleichwertige Menschen sind, ob Frauen das Wahlrecht erhalten sollen oder ob Homosexuelle heiraten dürfen.
Seit 1990 gelten Tiere in Deutschland zumindest nicht mehr als „Sache“. Was hätten Tiere davon, eigene Rechte zu besitzen?
Dieser stärkere Ansatz von „Tierrecht“ bezieht sich im Gegensatz zu vorhandenen Tierschutzgesetzen auf konkrete Individuen. Anwälte könnten sich für einzelne Tiere einsetzen, denen Unrecht widerfährt. Das unterscheidet sich vom Konzept des „Naturschutzes“, bei dem die einzelnen Akteure anonym bleiben. Es ist eigentlich schade, Tiere in solche legalen Debatten verwickeln zu müssen, doch zeigt die Praxis, dass sogenannte Schutzmaßnahmen oft wirkungslos sind.
Tieren Rechte zuzugestehen – glauben Sie, dass die Gesellschaft dazu bereit ist?
Wenn überhaupt, wird das eine langwierige Entwicklung. Beim Naturschutz gibt es eine breite Zustimmung – die allerdings im Widerspruch steht zu unserem zerstörerischen Lebensstil. Doch zumindest leuchtet ein, dass wir uns mittelfristig selber schaden, wenn wir unserem Planeten flächendeckend die Haut abziehen. Wenn wir es mit Anti-Speziesismus ernst meinen, müssen wir zudem abwägen, inwieweit wir die Haltung von Haus- und Nutztieren akzeptieren wollen. Also: Sind Schlachthäuser moralisch akzeptabel oder in Zoos eingesperrte Elefanten oder Hunde in Stadtwohnungen oder Katzen in Versuchslabors oder Legehennen in Käfigen? Ich hoffe, dass sich zunehmend mehr Menschen solchen Fragen stellen und bereit sind, Konsequenzen zu ziehen.
Sie sind selbst Anti-Speziesist. Sie unterstützen das Great Ape Project (GAP), das Personenrechte für Menschenaffen fordert – für eine Schimpansin und eine Orang Utan-Dame haben Anwälte das in Argentinien sogar schon erreicht.
Das GAP wirbt dafür, den Status unserer allernächsten Verwandten zu ändern – und sie als Personen aufzunehmen in die Gemeinschaft der Gleichen. So fordert das GAP für Orang-Utans, Gorillas, Bonobos und Schimpansen einige jener Privilegien ein, die bislang allein für Menschen gelten: ein Recht auf Leben, auf Freiheit und körperliche Autonomie. Ausschlaggebend für unsere ethische Position gegenüber anderen Menschenaffen wären demnach nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten.
Aber ist das GAP nicht auch diskriminierend, denn warum sollen ebenfalls intelligente Tiere wie etwa Delfine oder Oktopusse keine Rechte bekommen?
Das GAP soll vor allem die öffentliche Diskussion anstoßen. Wenn Menschen mit der Forderung konfrontiert werden, Gorillas oder Schimpansen ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zuzugestehen, ist die Zustimmung ziemlich breit, einfach wegen der augenfälligen Ähnlichkeit, die uns mit ihnen verbindet. Denn wir sind schließlich ebenfalls Primaten und Menschenaffen. Zu hoffen wäre, dass diese Verwandtschaft Leute zum Nachdenken bringt. Insofern könnte das GAP ein Türöffner sein.
Für den Philosophen Peter Singer, Mitbegründer des GAP, ist die Leidensfähigkeit eines Tieres entscheidend, ob es uns moralisch gleich gestellt sein sollte. Ist das nicht schon wieder eine Form von Ausgrenzung?
Hier geht es um eine Grenzziehung, die immer problematisch und willkürlich ist. Aber irgendein Kriterium muss es geben, sonst könnten wir keinen Salat mehr essen. Jedenfalls ist es angemessener, Leidensfähigkeit heranzuziehen als Intelligenz. Das hat Jeremy Bentham, der geistige Vater meiner Universität in London, bereits 1789 gut ausgedrückt: „Die Frage ist nicht: 'Kann das Tier denken?', sondern: 'Kann das Tier leiden?'“ Unser moralischer Ansatz sollte also kein Kognitivismus sein, sondern ein Sentientismus, der allen empfindungsfähigen Kreaturen ein Verfügungsrecht am eigenen Leib und Selbstbestimmung zuspricht. Welche Lebewesen dieses Kriterium nicht erfüllen, ist allerdings umstritten. Mitglieder der tierischen Biomasse im Plankton empfinden vermutlich nichts, aber bei Insekten wird die Behauptung schon problematisch.
Was ist Ihr Standpunkt als evolutionärer Anthropologe?
Ich verstehe zwar, wieso Lebewesen und Gruppen egoistisch und eigendienlich handeln. Das Revolutionäre der Evolutionstheorie ist aber die Erkenntnis, dass wir mit allen anderen Lebewesen verwandt sind durch einen nie unterbrochenen Strom von Generationen, und dass alle Kreaturen von gemeinsamen Urformen abstammen. Starre Grenzziehungen zwischen Lebensformen sind also immer künstlich. Das thematisiert Darwins schöner Satz „Differences are of degree, not of kind“, also: „Unterschiede sind graduell, nicht wesensmäßig“. In letzter Konsequenz bedeutet das sogar, dass es gar keine Arten gibt. „Spezies“ sind lediglich mentale Schubladen, die es uns leichter machen, unsere Gedanken zu sortieren. Sich als Teil eines komplexen Netzes von Leben zu begreifen, vergangenem, gegenwärtigem und zukünftigem, ist eine viel schönere Perspektive.