Die gute Nachricht zuerst: Seit dem Beginn der Corona-Pandemie verbessert sich die Luftqualität an vielen Orten und praktisch überall sinken die CO2-Emissionen. Die schlechte Nachricht: Viele Regierungen stellen in der Krise den Umweltschutz hintenan – und diese Leerstelle wissen Industrie und Wirtschaft für sich zu nutzen. Polen etwa fordert, den Emissionshandel in der EU auszusetzen, die Tschechische Republik will das Ziel der Staatengemeinschaft aufgeben, bis 2050 klimaneutral zu werden, die Fluggesellschaften drängen darauf, die Maßnahmen zur Emissionssenkung zu verschieben. Der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger sprach bereits Anfang April über die Notwendigkeit, die CO2-Ziele unter den neuen wirtschaftlichen Bedingungen zu lockern. Und im Rest der Welt sieht es nicht anders aus: China verlängert die Fristen für Unternehmen, Umweltstandards zu erfüllen, und hat den Bau mehrerer riesiger Solarparks verschoben. Auch die USA bestrafen Unternehmen derzeit nicht, wenn sie Umweltauflagen wegen der Pandemie nicht einhalten. Außerdem kündigte die amerikanische Umweltschutzbehörde an, die Vorschriften für Fahrzeugemissionen zurückzunehmen – ein zentraler Bestandteil der US-Bemühungen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Unstrittig ist, dass in Zeiten einer globalen Pandemie vieles wichtiger ist, als Umweltvorschriften. Doch was passiert, wenn die Behörden nicht eingreifen und der Umweltschutz an politischem Rückhalt verliert, lässt sich schon jetzt beobachten:
Kahlschlag im Amazonasbecken
Die Abholzung des Regenwalds hat in diesem Jahr einen traurigen Rekordwert erreicht. Bereits in den ersten drei Monaten wurden 796,08 Quadratkilometer entwaldet, eine Fläche fast zweimal so groß wie Bremen. Im Schatten der Covid-19-Pandemie ist damit die Abholzung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 50 Prozent gestiegen – auf den höchsten Wert seit Beginn der Erfassungen durch die brasilianische Raumfahrtbehörde per Satellit vor fünf Jahren.
Die vermehrte Abholzung direkt der Corona-Krise zuzuschreiben – dafür reichen bisher die Daten nicht. Sicher ist, dass die Politik des Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, den Raubbau nicht bremst: Der Rechtspopulist ist ein ausgesprochener Befürworter der wirtschaftlichen Ausbeutung Amazoniens. Experten und Umweltschützer sind sich einig, dass der Regenwald weiter deutlich schrumpfen wird, jetzt wo dank der Pandemie die brasilianische Umweltschutzbehörde nur eingeschränkt arbeitsfähig ist. Ohne den behördlichen Beistand liegt die letzte Hoffnung auf mehr Waldschutz derzeit auf einem globalen Wirtschaftsabschwung: Sinkt die Nachfrage nach Fleisch, Holz, Mineralien, Soja und anderen Amazonasprodukten, könnte das die Rodung der „Lunge des Planeten“ unattraktiver machen.
Dammbau in Bosnien
In Südosteuropa warnen Umweltschützer davor, dass die Ausnahmesituation missbraucht wird, um umstrittene Wasserkraftprojekte unter Ausschluss der Öffentlichkeit voranzutreiben und unumkehrbare Fakten zu schaffen. Südlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo werden Wasserkraftwerke an den Flüssen Bjelava, Mala Bjelava, Vrhovinska, Željeznica und Prača gebaut – zum Teil ohne Baugenehmigung, in allen Fällen ohne die gesetzlich vorgeschriebene Bauaufsicht. Die dazu notwendigen Inspektionen fallen wegen der Corona-Krise aus.
Das Problem bei diesen Dämmen: Sie entstehen an wenig erschlossenen Flüssen des Balkan, wo sie die aquatischen Ökosysteme zerstören und zur Methanbildung in den entstehenden Stauseen beitragen. Obwohl Wasserkraft als regenerative Energie gilt, haben Umweltschützer hier große Zweifel an ihrer Nachhaltigkeit. „Die Investoren nutzen die Chance, ohne lästige Kontrolle sowie Proteste von Anwohnern oder Umweltorganisationen bauliche Tatsachen zu schaffen“, sagt Ulrich Eichelmann, Koordinator der Umweltorganisation Riverwatch. „Es geht hier auch nicht um irgendwelche Bäche und Flüsse, sondern um einzigartige und bislang weitgehend unberührte Fließgewässer.“ Die Regierung müsse die Dammbauarbeiten stoppen und dringend ein Moratorium für den Bau von Kleinwasserkraftwerken und die Erteilung neuer Konzessionen verhängen, fordern die Umweltschützer. Doch in Zeiten der globalen Pandemie ist das mehr als unrealistisch.
Plastikflut auf der ganzen Welt
Schutzmasken und Handschuhe retten derzeit Menschen auf der ganzen Welt das Leben. Doch wo landet der daraus resultierende Plastikabfall? Stellenweise wird diese neue Umweltbelastung schon sichtbar: Ende Februar fanden Umweltschützer an Hongkongs Stränden und vor den Küsten der umliegenden Inseln enorme Mengen ausrangierter Gesichtsmasken – eine Bedrohung für die Meerestiere und deren Lebensräume. Und das wenige Wochen nach dem Beginn der Pandemie und der damit einhergehenden Infektionsschutzmaßnahmen.
Was sich in Hongkong beobachten lässt, könnte weltweit ein Phänomen sein: Auf der einen Seite schützt Kunststoff vor dem hochansteckenden Corona-Virus – Einwegprodukte gelten als sicherer und hygienischer als wiederverwendbare Alternativen. Auf der anderen Seite könnte die nicht sachgerechte Entsorgung der Schutzkleidung zum Umweltproblem werden. Hinzu kommt: Der niedrige Ölpreis macht die Herstellung von Kunststoff billiger denn je. Das Recycling von Plastik ist dadurch weniger wirtschaftlich. Diese einfache Rechnung könnte die Plastikflut in nächster Zeit stark anschwellen lassen.
Schon jetzt fordert die europäische Lobby der Kunststoffhersteller, PlasticsEurope, von der EU-Kommission sowie den Mitgliedsstaaten, anstehende Regulierungen hinauszuzögern und alle Verbote für Einweg-Kunststoffartikel aufheben. In Großbritannien wurde etwa die gesetzlich vorgeschriebene Gebühr für Plastiktüten gelockert. Auch in den USA hat die Plastik-Industrie mit diesen Anfragen bereits Erfolg: So wurde im Bundesstaat Maine das Verbot von Einweg-Plastiktüten, dass ab dem 22. April starten sollte, vorerst aufgehoben, auch in Kalifornien, New York und Oregon wurden die Anti-Plastik-Vorstöße pausiert.
Dies sind nur Schlaglichter auf ein Problem, das bereits vor der Corona-Pandemie existierte und in ihrem Schatten nur größer wird: die Zerstörung einer sicheren, sauberen Umwelt. Das Ausmaß adressierte der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und Umwelt, David Boyd, bereits Mitte April: Es sei „unvernünftig, unverantwortlich und gefährlich“, dass manche Länder die Covid-19-Pandemie als Vorwand nutzten, um ihre Umweltschutzpolitik zu lockern. Er warnte angesichts dessen vor einer globalen Umweltkrise. Die Regierungen müssten sich im Gegenteil besonders anstrengen, um die UN Nachhaltigkeitsziele bis 2030 zu erreichen. Denn sechzig Prozent aller neu auftretenden Infektionskrankheiten, die den Menschen betreffen, haben ihren Ursprung bei Wildtieren, wie mutmaßlich auch das Virus SARS-CoV-2. Experten sind davon überzeugt, dass solche neu auftretenden Krankheiten eng mit dem Vordringen des Menschen in die Wildnis zusammenhängen. David Boyd plädiert deshalb dafür, Umweltschutz in Zeiten einer Krise nicht zurückzustellen, sondern zu verstärken. Sein Credo: Eine gesunde Umwelt sei ein wirksames Mittel, um in Zukunft Pandemien zu verhindern und die Menschenrechte zu schützen.