Amy Neumann-Volmer war für Ärzte ohne Grenzen in Madagaskar im Einsatz, wo sie hungerleidende Menschen behandelte. Mit uns sprach sie für die aktuelle Ausgabe 4.22 „Hunger und Flucht“ über die Folgen von Mangelernährung, ihre Aufgaben als Helferin und Momente der Menschlichkeit
„Hunger ist lebensbedrohlich, man stirbt daran. Was wir mittags so verspüren, ist nur Appetit. Wer richtig hungert, hat keine Kraft, sich zu bewegen, und unterkühlt. Das Immunsystem fällt aus, man bekommt leicht eine Lungenentzündung, für Kinder können Masern das Todesurteil sein. Die Verdauungsorgane können bald gar keine Nahrung mehr verarbeiten, dann helfen nur noch Nährlösungen per Magensonde und Spezialdiäten, die wir verabreichen. Der Körper baut die Muskeln ab. Auch der Herzmuskel schrumpft, bis er aufhört zu schlagen. Uns begegnen Menschen, die aus Verzweiflung Blätter oder auch Wasser mit Sand essen. So eine Erfahrung brennt sich in die Seele ein. Wer das überlebt, fürchtet den Hunger sein Leben lang.
Laufen, spielen, singen, lernen, all das braucht Nahrung. Hunger leidende Kinder sind apathisch, sie verlieren ihre Lebenslust. Viele bekommen nur Kakteen und Wurzeln zu essen. Die Eltern wissen, dass sie damit sich selbst und ihren Kindern Schlechtes tun, doch sie haben keine Wahl. Wer so aufwächst, bleibt in seiner Entwicklung zurück und verkümmert. Alarmiert sind wir, wenn wir Unterernährung auch bei den Erwachsenen feststellen. Denn die haben meist noch Reserven im Körper, während Kinder zum Wachsen ständig Nährstoffe brauchen. Babys bekommen dann nicht genug Milch von der Mutter und sterben.
Letztes Jahr war ich in Madagaskar, dort gibt es wunderschöne Landschaften mit Kakteen in allen Formen. Schnell münden die Straßen in sandige Pisten, über die wir mit unseren Geländewagen schaukelten. Die Hütten in den Dörfern sind liebevoll gebaut, aber die Felder sind verdorrt, die Ställe verwaist. Gibt es zu wenig zu essen, wird den Menschen ihre schöne Heimat zur lebens feindlichen Umgebung. Die Leute sind nur damit beschäftigt, ihre Grundbedürfnisse zu stillen, nach Wasser, Feuerholz, Nahrung zu suchen. Bei jedem Regentropfen, der auf dem heißen Boden verpufft, versuchen sie, etwas zu säen. Hunger zersetzt auch die Gesellschaft, es kommt zu Misstrauen, Diebstahl, Kriegen.
Manche schleppen sich sechs Stunden lang zu unseren mobilen Hilfscamps. Man spürt ihre Erschöpfung, ihre Angst, ihre Ungeduld, ihre Neugier. Man freut sich mit ihnen, wenn sie wieder zu Kräften kommen oder sich von einer Tuberkulose erholen.
Meine Gedanken sind oft bei denen, die wir nicht erreichen konnten. Als Nothilfe können wir nicht ein ganzes Gesundheitssystem ersetzen. Wir stoßen auf Dörfer voller ausgezehrter Menschen. Mich lässt die Erinnerung an eine junge Frau und ihr Baby nicht los, beide lebensbedrohlich unterernährt. Sie mussten dringend ins Krankenhaus. Schon in ihren Augen sah ich, dass sie nicht mitkommen würde. Als es am nächsten Tag losgehen sollte, kam sie nicht. Den Grund – Aberglaube, Familie, was auch immer – werde ich nie erfahren. Solche Entscheidungen muss ich respektieren, obwohl es meinen Idealen widerspricht.
Wir hören zu, wenn Menschen von ihren Sorgen erzählen. Sie sollen sich verstanden fühlen, Anteilnahme erfahren. Einmal hat ein ganzes Dorf mit uns gesungen – der Tag ist hart, das Leben schwer, egal, wir singen jetzt! Ich mache mir keine Illu sionen, aber auf Augenhöhe zu sprechen, stellt die Würde wieder her, die einem der Hunger genommen hat. Zumindest für einen Moment.“
Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel. Alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!