Wo beginnt die Geschichte der gefährlichsten Waffe der Menschheit? Mit der Spaltung des ersten Atoms? Oder erst mit dem „Manhattan-Projekt“, dem Atomwaffenprogramm der Amerikaner? Didier Alcante, Laurent-Frédéric Bollée und Denis Rodier fangen noch früher an – und hüllen die ersten Seiten ihres Comics in Schwärze. „Am Anfang war das Nichts“, wispert uns eine Stimme aus dem Dunkeln zu. „Doch dieses Nichts enthielt bereits alles.“ In flammenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen inszeniert der kanadische Comiczeichner Rodier die Entstehung unseres Planeten. Weil von diesem Ereignis unmöglich ein Mensch erzählen kann, lassen die Autoren Alcante und Bollée das Uran selbst sprechen: „Auf dieser Erde war ich zunächst nicht mehr als ein geschmolzenes Gestein unter vielen, vielleicht zahllosen anderen. Dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass ich zu Großem bestimmt war. Dass eine gewaltige düstere Energie in mir schlummerte!“
Eine düstere Vorahnung hatte auch der ungarisch-deutsche Physiker Leó Szilárd, der 1933 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin lehrte. Er ist der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, und doch legte seine Forschung den Grundstein für den Bau der Atombombe. So begleitet der Leser oder die Leserin ihn zunächst dabei, wie er gegen alle Widerstände, vor allem die seines Konkurrenten Enrico Fermi, die nukleare Kettenreaktion nachweist. Als das Experiment gelingt, verkündet er: „Meine Herren, die gute Nachricht ist: Dem arroganten Fermi habe ich es gezeigt. Und die schlechte ist, dass ungeheures Leid auf die Welt zukommt.“ Von da an versucht der Physiker die Büchse der Pandora, die er öffnete, wieder zu schließen, sucht sogar Unterstützung bei seinem alten Lehrer Albert Einstein – doch vergebens.
Es beginnt ein Wettlauf zwischen Deutschland, Amerika, England, Japan und der Sowjetunion, der trotz seines bekannten Ausgangs im Comic nichts an Spannung einbüßt. Mit gekonnten Zeit- und Ortssprüngen zeichnet „Die Bombe“ nach, wie Physiker weltweit in den Dienst des Militärs gestellt werden, wie Spione sich einschleusen und wie Jagd auf den seltenen Rohstoff Uran gemacht wird, der zwischendurch immer wieder als Erzähler auftritt. Und wir erfahren, wie die Macht der Atombombe ihre Erbauer und Förderer verführt.
Neben historischen Persönlichkeiten wie Franklin D. Roosevelt, Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower oder Josef Stalin lernen wir auch weniger Bekannte wie Ebb Cade kennen, den ersten Menschen, dem die Amerikaner – ohne sein Wissen – Plutonium injizierten, um dessen Wirkung auf den Menschen zu erforschen. Wir begleiten Militäraktionen in Norwegen, besuchen die Uranmine in Belgisch-Kongo, beobachten den Fortschritt der Wissenschaftler im streng geheimen „Manhattan Project“ und tauchen ein in den Alltag von Hiroshima vor der Bombe.
Im unvermeidlichen Ende im japanischen Luftraum war es zuletzt das Wetter, das die Wahl spontan auf Hiroshima fallen ließ. Die Bilder der Explosion und ihrer Auswirkungen sind verstörend, düster und schonungslos. Hier merkt man Denis Rodier seine Erfahrung an: Er ist langjähriger Zeichner für die Verlage Marvel und DC, darunter für die bekannten Reihen Superman und Wonderwoman.
Rodier schafft eindringliche Bilder, die deutlich machen: Der Abwurf der Atombomben am 6. und 9. August auf Hiroshima und Nagasaki war ein unverzeihlicher Fehler, der unvorstellbares Leid auslöste und der sich niemals wiederholen darf. In Hiroshima starben unmittelbar 70.000 Menschen, in Nagasaki 40.000. Nach vier Monaten verdoppeln sich die Zahlen, nach fünf Jahren verzeichnet allein Hiroshima 200.000 Todesopfer.
Von vielen von ihnen bleiben nur Schatten, die sich in den Asphalt brannten. Darunter auch jener, der Didier Alcante zum Comic inspirierte: „Der Schatten einer Person ... nur dass es da keine Person mehr gibt. Nur den Schatten. Auf ewig festgehalten“, schreibt Alcante in seinem Nachwort. Der Schemen brannte sich bei der Explosion der Bombe in die Treppe der Sumitomo-Bank und ist heute im Friedensmuseum von Hiroshima ausgestellt. „Ich lernte ihn im Januar 1982 kennen, als ich gerade einmal elf Jahre alt war, und denke, er wird mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen“, schreibt Alcante.
Auch die Graphic Novel „Die Bombe“ beschäftigt ihre Leser noch lange nach der Lektüre. Wer sich auf das komplexe Werk einlässt, lernt vieles über den Umgang des Menschen mit einer Macht, die seine Vorstellungskraft übersteigt.