Die Europäische Union hat sich vorgenommen, bis 2050 klimaneutral zu sein. Für die fossile Brennstoffindustrie der EU bedeutet das also streng genommen spätestens in dreißig Jahren das Aus. Um dennoch nicht zu verschwinden, will sich die europäische Ölindustrie nun neu erfinden und ebenfalls bis 2050 klimaneutral werden. Schaffen will sie das mit der Umstellung auf CO2-arme Kraftstoffe. Sie will damit den Verbrennungsmotor am Leben erhalten. Für den würde das bedeuten: Öl raus, neue Kraftstoffe rein.
Wie genau das aussehen soll, das haben der deutsche Mineralölwirtschaftsverband und der europäische Dachverband Fuels Europe in einem Strategiepapier erarbeitet, das sie vor Kurzem der Öffentlichkeit präsentierten. Der hoffnungsfrohe Titel „Clean fuels for all“ („Saubere Kraftstoffe für alle“) wird durch Bilder von Pusteblumen, Bananenschalen und einer Blumenwiese ergänzt, sie sollen einen Hinweis auf die Herkunft der neuen Kraftstoffe geben. Zunächst soll laut dem Plan die Produktion von Biokraftstoffen aus Agrar- und Forstabfällen, Produktionsrückständen, Algen und hydrierten Pflanzenölen hochgefahren werden. Das allein würde aber nicht reichen.
Schrittweise sollen dann sogenannte E-Treibstoffe hinzukommen. Mittels Elektrolyse-Verfahren wird für deren Herstellung Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff aufgespalten: in gänzlich „grünen“ aus Wind-, Wasser- oder Sonnenkraft oder auch in „blauen“, wenn die Elektrolyse mithilfe von Wärme aus Erdgas abgelaufen ist, das dabei entstandene CO2 aber abgeschieden und unterirdisch gespeichert wird. Mit der Hilfe von CO2, das idealerweise aus der Luft stammt, kann dann in einem weiteren Schritt aus dem Wasserstoff ein Treibstoff erzeugt werden, der Autogas, Diesel, Benzin oder Kerosin ersetzt. Dieses Verfahren nennt sich Power-to-X.
Die unterirdische Speicherung von CO2, auf die die Mineralölindustrie auf ihrem Weg in die Klimaneutralität setzt, ist allerdings höchst umstritten. Das Verfahren nennt sich CCS, kurz für „Carbon Capture and Storage“. Anwenden lässt es sich zum Beispiel in ausgebeuteten Gas- oder Erdöllagerstätten oder im Meeresuntergrund. Die Technologie ist aus mehreren Gründen umstritten: Sie ist noch nicht genügend erforscht, es drohen Lecks, und ähnlich wie bei einem Atommüllendlager entstünde eine Verantwortung für die Ewigkeit. Darüber hinaus sind seine Abscheidung, der Transport und die Speicherung enorm energieaufwendig. „Der Einsatz der CCS-Technik erhöht den Verbrauch der begrenzt verfügbaren fossilen Rohstoffe um bis zu 40 Prozent“, schätzt das Umweltbundesamt. Es würden also absurderweise mehr fossile Brennstoffe gebraucht, um die fossilen Brennstoffe abzuschaffen, als wenn man diese direkt verbrennen würde.
Nicht nur deswegen hagelt es an den Plänen Kritik. „Die Antwort der Branche auf die Klimakrise ist nicht zielführend“, sagt Dorothee Saar. Sie ist Bereichsleiterin für Verkehr und Luftreinhaltung bei der Deutschen Umwelthilfe und sieht sowohl Bio- als auch E-Treibstoffe kritisch. Nachhaltig produzierte Biokraftstoffe seien nicht ausreichend verfügbar und der Anbau von Energiepflanzen nicht klimafreundlich. „E-Treibstoffe stehen bis 2030 nicht in Größenordnung zur Verfügung und sind in der Herstellung besonders energieaufwendig“, führt sie weiter aus. Gestützt wird sie von einer Studie der Denkfabrik Agora Verkehrswende von 2017: Demnach braucht ein Auto mit Elektroantrieb für 100 Kilometer 15 Kilowattstunden Strom, ein mit Wasserstoff betriebenes Auto schon 31 Kilowattstunden und ein mit E-Treibstoffen fahrendes Auto ganze 103 Kilowattstunden. Es drängt sich die Frage auf: Warum sollte man den Umweg über den Kraftstoff gehen, wenn man den Strom direkt ins Auto einspeisen kann?
Aus Sicht der Ölindustrie ist die Antwort klar: Sie kann ihre alten Anlagen weiter benutzen. Fuels-Europe-Generaldirektor John Cooper ließ die Öffentlichkeit wissen, er sei selbst überrascht gewesen, wie viel von einer konventionellen Raffinerie sich auch für die Herstellung der CO2-armen Kraftstoffe eigne. Dennoch rechnet er mit einem Investitionsbedarf von satten 650 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das als Antwort auf die Corona-Krise gerade zäh verhandelte Wiederaufbauprogramm der EU beläuft sich auf 750 Milliarden Euro. Um die astronomische Summe stemmen zu können, wünscht sich die Industrie politische Unterstützung. Auf der Wunschliste stehen unter anderem höhere CO2-Preise für fossile Kraftstoffe, damit die neuen Kraftstoffe attraktiver werden. Ironischerweise steht da aber auch eine Befreiung von eben jener EEG-Umlage, mit der der Ausbau der Erneuerbaren Energien finanziert wird, auf die die Mineralölwirtschaft nun so dringend zurückgreifen will.
Das Bundesumweltministerium ist wenig beeindruckt von dem Vorhaben, denn es sieht die Zukunft des Straßenverkehrs vor allem im Elektroantrieb. Sinnvoll seien die CO2-armen Kraftstoffe nur dort, wo sich Batterien schlecht einsetzen lassen, also bei Schiffen, Flugzeugen und Schwerlastern. Und die Deutsche Umwelthilfe teilt diese Einschätzung: „Es müssen vor allem deutlich ambitioniertere Effizienzmaßnahmen umgesetzt werden“, mahnt Dorothee Saar, und meint den Verzicht auf Inlandsflüge, eine stärkere Nutzung der Bahn und die Abbildung der Umweltkosten, die durch Transport entstehen, im Preis von Produkten. „Technische Lösungen wie E-Treibstoffe können einen Beitrag leisten, ersetzen jedoch nicht erforderliche strukturelle Änderungen.“ Dieser Beitrag wird wohl nicht groß genug sein, als dass sich die Mineralölindustrie mit ihm in die Zukunft retten könnte. Klimaneutralität und Raffinerien, das geht eben doch nicht zusammen.