Menschen setzen sich auf Fahrbahnen, kleben ihre Hände am Asphalt fest, vergießen literweise Rapsöl. Die blockierten Lkw-Fahrerinnen und Autofahrer nehmen die Situation teils stoisch hin, teils hupen sie, beschimpfen die Protestierenden, greifen sie an, versuchen, sie von der Straße zu zerren. Irgendwann trägt die Polizei die Aktivist*innen weg, die Straße wird gereinigt, der Verkehr setzt sich wieder in Bewegung. Die Blockierer*innen landen dann für ein paar Stunden auf einer Wache und bekommen eine Anzeige. Ob im Hamburger Hafen, am Berliner Flughafen, auf Autobahnen in der Republik – die drastischen Aktionen von Gruppen wie „Aufstand der letzten Generation“ machen zur Zeit Schlagzeilen. Ihr Ziel, so sagen es die Aktivist*innen, ist es, Gesellschaft und Politik zu einer konsequenten Klimapolitik zu bewegen, die Verschwendung von Lebensmitteln zu stoppen, die Artenvielfalt zu schützen.
Begründet werden die neuen, auf Störung ausgelegten Proteste mit der Frustration der Bewegung: Die friedlichen Demonstrationen der vergangenen Jahre hätten nicht zu substanziell verbessertem Klimaschutz geführt, darum müsse man die Mittel des Protestes ändern. „Die angekündigten Maßnahmen der Regierung sind nicht geeignet, um den Klimakollaps zu verhindern“, erklärt etwa „Die letzte Generation“. „Wir können das nicht mehr länger hinnehmen und leisten jetzt Widerstand.“ Dass der Klimaschutz in Deutschland sich auch in den kommenden vier Jahren nicht ausreichend beschleunigen wird, sehen auch große Bündnisse wie „Fridays for Future“ so. Die Klimaschutzorganisation hatte die Beschlüsse der Ampel-Koalition mit einer selbst beauftragten Studie des Wuppertal-Instituts verglichen und kam zu dem Schluss: „Gemessen an dem Versagen der Großen Koalition erleben wir Fortschritte. Gemessen an der Realität der Klimakrise reicht dieses Regierungsprogramm vorne und hinten nicht.“
Zu dieser Einschätzung kommt auch die der Klimaschutzbewegung nahestehende Denkfabrik „Konzeptwerk Neue Ökonomie“: „Die Ampel beansprucht das Sechsfache des noch verfügbaren deutschen CO2-Budgets für global gerechte Pfade zu einer 67-Prozent-Chance auf 1,5 Grad.“ Heißt konkret: Der Klimaschutz der Bundesregierung wird nicht ausreichen, um das internationale Ziel zu erreichen, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu beschränken. Und für Aktivist*innen, die sich als die letzte Generation wahrnehmen, die das noch verhindern könnte, ist das ein Anlass, ihre Protestmethoden neu zu bewerten. „Diese Entwicklung, dass es Gruppen gibt, die neue Protestformen ausprobieren, ist nur eine logische Folge aus eben der Untätigkeit der Regierung“, sagte „Fridays For Future“-Sprecherin Carla Reemtsma der ARD. „Ich glaube, es ist gut, dass es diese Gruppen gibt, weil die Klimabewegung anscheinend noch nicht ausgereicht hat, um die Politik zum Handeln zu bringen.
Die Grenzen des zivilen Ungehorsams sind dabei seit jeher so unklar wie umstritten. Denn der Begriff ist nicht trennscharf, er hat keine allgemein gültige Definition. Was genau im Zusammenhang mit aktuellen Protesten unter „friedlicher Sabotage“ und „zivilem Ungehorsam“ verstanden wird, ist Teil einer andauernden gesellschaftlichen Debatte. Zurückgeführt wird der Begriff des zivilen Ungehorsams in der Literatur meist auf Henry David Thoreaus Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ aus dem Jahr 1849, in dem er dafür argumentiert, aus Kritik an Sklaverei und Krieg die Steuerzahlung auszusetzen. So wandelbar die Gründe für die Protestform, so wandelbar ist auch ihre Definition. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas sieht in zivilem Ungehorsam einen „moralisch begründeten Protest, (…) der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließt“, ohne jedoch den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen in Frage zu stellen. Die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, habe dabei ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergebe sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.
Dagegen sieht der Philosoph Robin Celikates von der Freien Universität Berlin zivilen Ungehorsam als nicht bloß symbolisch, sondern als eine Protestform, die auf „disruptive Art und Weise in die tägliche Ordnung“ eingreife, wie er kürzlich der „Tageszeitung“ sagte. Dabei liege es aber in der Verantwortung der Protestierenden, ihre Beweggründe zu vermitteln und klarzumachen, weshalb der zivile Ungehorsam der einzige Weg sei, um ihren Protest vorzutragen. In Bezug auf Autobahnblockaden sagte Celikates: „Die Aktivist:innen wollen die Politik zum Handeln bewegen, indem die Kosten durch Blockaden in die Höhe getrieben werden. Wenn man keine zusätzliche Überzeugungsarbeit leistet, riskiert man aber den Vorwurf der Nötigung. Deswegen muss man auch versuchen, zu überzeugen.“
Rechtlich betrachtet ist der zivile Ungehorsam weder Ordnungswidrigkeit noch Straftat. Die einzelnen Handlungen können aber angezeigt werden, etwa als Hausfriedensbruch, wenn jemand in eine Kohlegrube eindringt, als Sachbeschädigung, wenn man Luft aus Autoreifen ablässt oder als Eingriff in den Straßenverkehr, wenn Autobahnbrücken besetzt werden.
Bei Blockaden, die den Straftatbestand der Nötigung erfüllen könnten, prüfen die Gerichte genau, wie die Aktionen konzipiert sind: wie lange sie dauern, wie sie angekündigt werden, wie groß sie sind und welche Ausweichmöglichkeiten es für die Betroffenen gibt. „Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist“, schrieb das Verfassungsgericht im Jahr 2011. Für die Bewertung einer Blockade entscheidend sei dabei, ob die Versammlung friedlich ablaufe, schreibt der Rechtswissenschaftler und Gastprofessor an der Humboldt-Universität Berlin, Tim Wihl. Das sei bei den aktuell stattfindenden Aktionen in aller Regel der Fall, selbst wenn sie auf Störung ausgelegt seien. „Unfriedlich sind nämlich nur Versammlungen, die als Ganze auf physische, aggressive Gewalt abzielen, auf ,Gewalttätigkeiten‘, nicht bloße ,Behinderungen‘. Dass Rettungsfahrzeuge, wie berichtet, im Einzelfall nicht mehr durchkommen konnten, ist durchaus ein politisches und moralisches Problem einzelner Autobahnblockaden gewesen, ändert aber nichts an ihrer juridischen Friedlichkeit.“
Grundsätzlich ist auch „störendes“ Demonstrieren durch Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes gedeckt: Alle Bürgerinnen und Bürger hätten demnach das Recht zum Widerstand, wenn „andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Ob das im Fall der Klimaschutzbewegung zum jetzigen Zeitpunkt gegeben ist, ist dabei Ansichtssache – während manche Klimaschützer*innen sich an der Straße festkleben, ziehen andere in den Bundestag ein.
Dennoch sah sich die Regierung dazu veranlasst, die Störungsaktionen öffentlich zu problematisieren. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb auf Twitter: „Aus gegebenem Anlass: Ziviler Ungehorsam ist im deutschen Recht weder Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgrund. Unangemeldete Demos auf Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig. Protest ist ok, aber nur im Rahmen von Recht und Verfassung“. Und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schrieb: „Rettungswege zu versperren, setzt Menschenleben aufs Spiel. Friedlicher Protest ist wichtig in der Demokratie. Aber niemand hat das Recht, andere zu gefährden.“
Dabei war es stets die Devise der Klimaaktivist*innen, die sich bisher öffentlich für weitreichenden zivilen Ungehorsam ausgesprochen haben, dass bei der friedlichen Sabotage Gegenstände zerstört werden, Menschen aber nicht zu Schaden kommen dürfen. Wo genau die demokratisch legitime Grenze zwischen Protest, Blockade und Sabotage verläuft, wird aber nicht erst seit Kurzem kontrovers diskutiert. Wenn Menschen Jahr für Jahr im Wendland Bahngleise besetzten, um Atommülltransporte zu verzögern, galt das als ziviler Ungehorsam. Als dann, wie 2010 massenhaft geschehen, Steine aus dem Gleisbett der Schienen entfernt wurden, entbrannte die Diskussion: Ist das „Schottern“ noch Ungehorsam oder schon Sabotage? Wenn einzelne Aktivist*innen Kohlemeiler erklimmen und dort Plakate ausrollen, gilt das vielen als legitimer Protest – doch was, wenn wie im Rahmen der Massendemonstrationen von „Ende Gelände“ seit 2016 große Protestzüge ganze Kraftwerke mit Besetzungen lahmlegen?
Diese Fragen beschränken sich durchaus nicht auf klimapolitische Proteste: Ist es friedliche Sabotage, wenn – wie derzeit in Kanada – Lkw-Fahrerinnen gegen Impfvorschriften demonstrieren, indem sie den Warenverkehr lahmlegen? Wenn Apotheker aus Überzeugung Impfdosen sabotieren, wie mutmaßlich in den USA geschehen? Oder, ein hypothetisches Beispiel, wenn Windkraftgegnerinnen Turbinen sabotieren und damit die Umsetzung der Energiewende ausbremsen würden?
Man kann gegen diese Gleichsetzung einwenden, dass die Anliegen von Protestgruppen wie „Die letzte Generation“ und „Zucker im Tank“ wissenschaftlich fundiert sind: Ihre Bedenken gegenüber der Klimapolitik werden durch Studien von internationalen Wissenschaftsgremien belegt: Die CO2-Emissionen steigen seit Jahrzehnten an, und mit ihnen nimmt die globale Klimakrise an Fahrt auf. Der aktuelle Bericht des Weltklimarats warnt, dass jede weitere Verzögerung von Klimaschutzmaßnahmen „das Fenster der Gelegenheit schließt, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern“. Doch es besteht die Gefahr, dass durch die belegbare Dringlichkeit der Sache die demokratischen Realitäten aus dem Blick geraten: Für die Forderungen der Klimaschützer*innen gibt es schlicht keine parlamentarischen Mehrheiten. Parteien mit ambitionierterem Klimaschutzprogramm als dem der aktuellen Regierungsparteien gewinnen in Deutschland keine signifikanten Mehrheiten, weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Die entscheidende Frage ist: Können die Aktionen unter dem Label „friedliche Sabotage“ dazu beitragen, dass sich daran etwas ändert? Werden Hungerstreiks, Autobahnblockaden und Baggersabotage die Auffassungen in der Gesellschaft tatsächlich verändern?
Die bisherigen Reaktionen bei den unmittelbar Betroffenen lassen das nicht vermuten, wie ein ARD-Beitrag kürzlich zeigte: Ein Lkw-Fahrer, der auf der blockierten Köhlbrandbrücke im Hamburger Hafen steht, spricht mit den Aktivist*innen. „Der einzige Weg ist eigentlich, die Bevölkerung zu überzeugen. Und ihr überzeugt hier niemanden, die hassen euch alle (…) denn die kommen nicht zur Arbeit, die kommen nicht zu ihrer Familie, die haben Stress mit ihrem Chef, die haben Verdienstausfall (...).“ Eine Aktivistin fragt zurück: „Aber können Sie das Ziel denn verstehen?“ Er antwortet: „Natürlich versteh’ ich das Ziel, absolut. Die Intention ist ja richtig, das ist absolut korrekt. Aber der Weg ist falsch. Und zwar so falsch, dass er kontraproduktiv ist.“ Ein Aktivist wirft ein: „Aber die Regierung wird gezwungen, zu handeln...“ und der Lkw-Fahrer entgegnet knapp: „Das glaubst aber auch nur Du.“
Der Unwille gegen einschneidende Aktionsformen ist groß: Bei einer Umfrage für den „Tagesspiegel“ erklärten im Februar mehr als zwei Drittel der 58.000 befragten Menschen bundesweit, dass sie Autobahnblockaden als Protestform für den Klimaschutz nicht gerechtfertigt finden.
Viele Befürworter glauben dennoch, dass solche Formen des zivilen Ungehorsams dem Klimaschutz dienen können: „Bringt man die Autofahrer auf die eigene Seite? Eher nein. Bekommt man viel mediale Aufmerksamkeit? Ja. Insofern ist die Strategie aufgegangen“, sagt der Philosoph Robin Celikates. Klar ist: Wenn die Aktivist*innen nicht länger versuchen, für ihre Anliegen Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen, sondern auch negative Aufmerksamkeit zum Erfolg für den Klimaschutz erklären, beginnt damit eine neue Phase der Bewegung.