Es ist nur wenige Tage her, da war der Klimaaktivist Ilyess El Kortbi noch in seiner Heimat Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine nahe der Grenze zu Russland. Nun liegt die Metropole unter Beschuss, El Kortbi musste fliehen.
Er ist Mitgründer von Fridays for Future in der Ukraine. Dort zählt die Bewegung knapp vierzig Aktivistinnen und Aktivisten, sieben davon im Kernteam, ihren letzten Streik organisierten sie im Dezember. Danach wurde es immer schwieriger. Nun fallen Bomben auf die Plätze und Straßen, auf denen sie einst demonstrierten.
Ilysess El Kortbi verließ Charkiw einen Tag, bevor die ersten Bomben fielen. Er war in Kiew, als dort die ersten Luftangriffe losgingen. „Wir rannten drei- bis siebenmal am Tag in die Luftschutzbunker“, erzählt der 25-Jährige. „Die Nächte dort waren furchtbar.“ Draußen war es kaum besser zu ertragen. Sein Hotelzimmer sei ganz oben direkt unterm Dach gewesen, darüber nur noch der Himmel, der nun eine Bedrohung war. „Ich hatte solche Angst, ich hörte die Explosionen“, erzählt El Kortbi. „Sie sind immer noch in meinem Kopf, genau wie die Sirenen.“
Mit der Hilfe von Fremden schaffte er es an die ungarische Grenze. Da er neben der marokkanischen auch die ukrainische Staatsbürgerschaft hat, durfte er zunächst nicht ausreisen. Wieder halfen ihm Fremde und versteckten ihn in einem Kindergarten. „Ich fühlte mich vollkommen hoffnungslos“, erzählt El Kortbi. Er floh vor den russischen Invasoren und den ukrainischen Streitkräften zugleich. Denn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine allgemeine Mobilmachung angeordnet: Ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen, sie sollen kämpfen. „Ich habe bislang immer humanitäre Arbeit gemacht, ich kann nicht auf Menschen schießen“, erklärt El Kortbi. Schließlich gelang ihm die Flucht, nun ist er in Budapest, knapp 1290 Kilometer von Charkiw entfernt.
Währenddessen harrt Anastasiia Onufriv in einer kleinen Stadt in der Oblast Lwiw im Nordwesten der Ukraine aus, auch sie ist Aktivistin bei Fridays for Future Ukraine. Seit der Krieg begann, ist sie zu ihrem Bruder gezogen. „Meine größte Angst ist, von meinem Bruder getrennt zu werden und ihn nie wieder zu sehen“, sagt sie. „Wir haben eine Familiengeschichte: Im Zweiten Weltkrieg wurden unsere Urgroßeltern durch die Frontlinie getrennt. Sie trafen sich erst nach zwanzig Jahren wieder und waren sich bis dahin fremd geworden.“ Zu Hause nehmen sie nun Geflüchtete aus dem Osten auf, die Wohnung sei voller Menschen. Onufriv hat Angst, dass auch die Bomben in den Westen kommen werden.
Am 1. März hatte Fridays for Future Ukraine einen verzweifelten Tweet auf Twitter abgesetzt: „Wir sind junge Klimaaktivisten in der #Ukraine und wir haben Angst. Der Krieg eskaliert stündlich und wir wissen nicht, was als nächstes passieren wird“, schrieben sie darin. „Wir machen es kurz: Wir brauchen euch, um für uns da zu sein. Wir rufen Fridays for Future dazu auf, diesen Donnerstag weltweit für ein Ende des Krieges zu protestieren!“ Zehntausende folgten diesem Aufruf und demonstrierten in mehr als hundert Städten, allein der Protestzug in Berlin zählte rund 5000 Menschen. Auch Fridays for Future Russland zeigte sich solidarisch: „Putin versucht, den Status quo beizubehalten, in dem das Erdöl regiert, aber die Ära der fossilen Brennstoffe geht zu Ende“, so die Gruppe.
Ilyess El Kortbi ist es sehr wichtig zu betonen, dass bei dem Krieg fossile Brennstoffe, also Ressourcen, die wir nicht mehr brauchen, eine große Rolle spielen. Auch in einer Solidaritätsbekundung von Fridays for Future Deutschland schreiben die Aktivist*innen, dass es bei allen Kriegen, die in der Welt geführt werden, einschließlich des Krieges, der durch Putins Angriff auf die Ukraine ausgelöst wurde, um Ressourcen gehe. Fiona Harvey, Umweltkorrespondentin der britischen Zeitung The Guardian, zweifelt allerdings an, dass bei diesem Krieg fossile Energien im Fokus stehen und schreibt, Vladimir Putin habe seit langem territoriale Ansprüche in der Ukraine deutlich gemacht.
Aber Öl und Gas spielen dennoch eine wichtige Rolle in diesem Krieg: Denn die fossile Industrie hat die russische Invasion zu großen Teilen überhaupt erst möglich gemacht. Rund 40 Prozent des russischen Staatshaushaltes speisen sich aus der Öl- und Gasförderung – die westliche Ölkonzerne wie British Petroleum oder ExxonMobil kräftig mit Investitionen unterstützten. Große Mengen Öl und Gas exportiert Russland ins Ausland und verdiente damit allein im Jahr 2021 nach Angaben des Finanzministeriums knapp 110 Milliarden Euro.
Europa hängt massiv an Putins Tropf: Allein rund 40 Prozent des in Europa verheizten Erdgases kommen aus Russland, hinzu kommen Öl- und Kohleimporte. Statt sich von dieser Abhängigkeit zu lösen und erneuerbare Energien auf eigenem Grund und Boden stärker auszubauen, kaufte Europa mit der voranschreitenden Abkehr von Atom- und Kohlestrom immer mehr russisches Gas. Und das ist gefährlich: „Russland macht seine Vormachtstellung bei der europäischen Gasversorgung zur Waffe für politische Zwecke“, schreibt Fiona Harvey. „Die EU muss dringend unabhängig von russischem Gas werden. Nicht nur um Netto-Null-Emissionen zu erreichen, sondern auch um Putins Macht zu verringern.“ Gerade erst drohte Russland mit einem Gaslieferstopp durch die Ostseepipeline Nord Stream 1, angesichts der „unbegründeten Anschuldigungen gegen Russland bezüglich der Energiekrise in Europa und des Verbots von Nord Stream 2“, so der russische Vizeregierungschef Alexander Nowak in einer Rede im russischen Fernsehen. Die deutsche Regierung hatte die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 gestoppt, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war.
Wie wichtig es ist, die Abhängigkeit vom russischen Gas zu durchbrechen, haben EU-Klimakommissar Frans Timmermans und EU-Außenbeauftragter Josep Borrell bereits im April letzten Jahres in ihrem Artikel „Die Geopolitik des Klimawandels“ geschrieben: „Der schrittweise Ausstieg aus den Energieimporten wird auch dazu beitragen, das Einkommen und die geopolitische Macht von Ländern wie Russland zu verringern, das derzeit stark vom EU-Markt abhängig ist.“ Der Verlust dieser wichtigen russischen Einnahmequelle könne kurzfristig zu Instabilität führen, aber: „Langfristig könnte eine Welt, die von sauberer Energie lebt, auch eine Welt mit saubereren Regierungen sein, da die traditionellen Exporteure fossiler Brennstoffe ihre Wirtschaft diversifizieren und sich vom ‚Ölfluch‘ und der damit oft einhergehenden Korruption befreien müssen.“
Stattdessen denkt die deutsche Politik angesichts der Unsicherheiten des Krieges nun öffentlich über längere Laufzeiten der hiesigen Atom- und Kohlekraftwerke nach. Festlegungen auf einen frühzeitigeren Kohleausstieg sollten nun „unbedingt vermieden werden“, sagte etwa Nordrhein-Westfalens Wirtschafts- und Energieminister Andreas Pinkwart von der FDP. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hielt zwar dagegen, sagte aber auch: „Es gibt keine Denktabus.“
„Um die Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, steigen viele nun von russischen fossilen Brennstoffen auf andere Bezugsquellen um. Aber ich möchte den Wandel zur Abkehr von fossilen Energien sehen“, sagt Yana Shvarts. Sie ist wie Ilyess El Kortbi Aktivistin bei Fridays for Future Ukraine. Sie ist 22 Jahre alt und lebt in Lwiw im Westen des Landes. „Zu Beginn schlugen drei Raketen hier in der Region ein“, erzählt sie. Nun sei es relativ ruhig, was Kampfhandlungen betreffe. Zahlreiche Geflüchtete aus anderen Gegenden der Ukraine kommen nun in die Stadt. „Es ist schwierig, die Güter des täglichen Bedarfs zu kaufen, alles geht an die Front und an Freiwilligenorganisationen“, sagt Shvarts. Sie kann sich dennoch nicht vorstellen, ihre Heimatstadt zu verlassen.
Genau wie der 31-jährige Igor Sumlenny, ebenfalls Aktivist bei Fridays for Future Ukraine. Auch er ist noch nicht geflohen, sondern mit seiner Familie in der Hauptstadt Kiew geblieben. „Dieser Krieg zeigt uns die Folgen der fossilen Industrie in der Welt“, sagt Sumlenny. „Die meisten Umwelt- und Klimaschützer in der Ukraine denken nun in erster Linie an ihr Überleben und die Sicherheit ihrer Familien. Es ist also nicht einfach, jetzt über Klimaschutz zu sprechen.“ Das letzte Mal ging er im September für das Klima auf die Straße, seitdem hat er seinen Protest ins Internet verlagert. Der Krieg ist in Kiew allgegenwärtig: „Einige russische Raketen wurden nicht weit von meinem Haus abgeschossen, einige von ihnen zerstörten Häuser in der Nähe“, erzählt Sumlenny. In den umliegenden Straßen kämpften russische und ukrainische Kräfte gegeneinander. „Einer meiner Freunde, Kyrylo, wurde am 6. März bei der Verteidigung von Kiew getötet“, sagt er, aber er habe keine Angst. „Ich habe beschlossen, bei meinen Eltern in Kiew zu bleiben und meine Heimatstadt zu schützen.“
Ilyess El Kortbi demonstrierte noch im Nachtzug, als er von Charkiw nach Kiew floh. Er postete ein Foto von sich aus dem Zug, in den Händen ein Plakat mit der Aufschrift „Jugend für das Klima“. „Ich habe gegen die Klimakrise gekämpft“, schrieb er darunter. Nun flieht er vor einem Krieg, der zu großen Teilen durch fossile Brennstoffe finanziert wird.