Liebe Leserinnen und Leser,

Ende Januar trat Deutschlands neuer Wirtschaftsminister Robert Habeck vor die Bundespresse und rückte dabei nicht nur seine Brille zurecht. Er rüttelte auch an etwas anderem. Im Gepäck hatte er den Jahreswirtschaftsbericht. Dessen Präsentation ist meist eine recht dröge Veranstaltung, die um eine Kennzahl kreist: das Bruttoinlandsprodukt. Seit Jahrzehnten ist das BIP der wichtigste Gradmesser für gesellschaftliches Wohlergehen – und damit Leitindex für politisches Handeln. Wenn die Wirtschaft wächst, dann wächst auch die Lebensqualität, so die Devise. Bis jetzt.

Denn was sich diesmal in Berlin abspielte, war vielleicht keine Revolution, aber zumindest ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik: Der Jahreswirtschaftsbericht umfasste in einem Sonderkapitel 31 weitere Indikatoren, die dem BIP zu Hilfe eilen sollen, darunter Zahlen wie der Gender-Pay-Gap (Die Gehaltskluft zwischen Männern und Frauen lag zuletzt bei 18 Prozent), der Grenzwert für Nitrat im Grundwasser (Er wurde bei 16 Prozent der Messstellen nicht eingehalten) oder der Anteil von Kindern, die eine Kita besuchen und dort frühe Bildungschancen haben (47 Prozent der 3- bis 5-Jährigen).

Die Grünen kritisieren schon länger das Konzept, das Wohlergehen des Landes in erster Linie am Wert der hier produzierten Waren und Dienstleistungen zu messen. Denn diese Berechnung klammert nicht nur dabei verursachte Schäden wie Umweltverschmutzung aus, sie liefert auch ein Zerrbild der Realität. Schließlich fließt auch die Behebung von Schäden positiv ins BIP ein: etwa wenn Menschen, die unter schlechter Luft leiden, teure Lungentherapien bekommen oder wenn Betriebe nach einer Flut zerstörte Häuser wieder aufbauen. Dabei sind dies allenfalls Reparaturen, aber keine Steigerung des Wohlergehens von Mensch und Natur. In den Koalitionsvertrag hatten die Grünen daher eine Wohlstandsmessung verhandelt, „die neben ökonomischen auch ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen des Wohlstands erfasst“.

Andere Länder sind da schon deutlich weiter. Mehr als die Hälfte der OECD-Staaten arbeiten mittlerweile neben dem BIP mit weiteren Indikatoren. Manche, wie Neuseeland oder Island, betrachten diese nicht nur als Statistik, sondern versuchen die Kennzahlen in wirksame Politik zu übersetzen, indem sie die Staatsausgaben tatsächlich an den neuen Parametern ausrichten, mit einem ganz neuen Haushaltsplan. Neuseelands „Wellbeing Budget“ war 2019 das weltweit erste seiner Art (mehr dazu im Greenpeace Magazin 6.2021, „Die Wohlfahrtsagenda“).

Wie die neuen Indikatoren zu besserer Politik auch in Deutschland führen sollen, ließ Robert Habeck jedoch offen. Der Minister betonte immerhin, dass das Sonderkapitel kein Beiwerk sei: „Es geht hier nicht um akademisches Trockenschwimmen.“

Kapitalismuskritik als Opfer des Rotstifts

Interessant war auch, was der Bericht nun nicht (mehr) sagte. Die Worte Konsum und Kapitalismus etwa. Die standen noch in einem ersten Entwurf. Da ging es etwa um die Frage, ob Nachhaltigkeit nicht wichtiger sei als noch mehr Konsum. Und um die Forderung nach neuen wirtschaftspolitischen Zielen. Dem Kapitalismus fehle es an einer „systematischen Verankerung“ von Nachhaltigkeit, stand da. Zu Oppositionszeiten hatte Habeck sich ähnlich geäußert. Ein Kapitalismuskritiker an der Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums? Da lief wohl insbesondere dem gelben Koalitionspartner ein Schauer über den Rücken – und flugs wurden die kritischen Passagen aus dem Bericht getilgt. Mehr noch, auch verbal vollzog der Minister eine Kehrtwende: „Zu sagen, wir verzichten auf die Idee von Wachstum, würde bedeuten, wir verzichten auf die Idee von Fortschritt“, sagte er bei der Pressekonferenz.

Erwartbare Kritik an dem Manöver kam aus den Reihen der CDU. „Unser Land braucht jetzt keinen Philosophen, der über die Grenzen des Wachstums nachdenkt“, sagte Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion.

Nein, einen Philosophen brauchen wir tatsächlich nicht. Sondern jemanden, der diese Grenzen klar benennt. Die Kritik an der Idee unendlichen Wachstums ist schließlich nicht neu – der Bericht über die planetaren Grenzen des Club of Romes jährt sich im März zum 50. Mal – und die Fehlentwicklungen sind offensichtlich. Diese Woche kam der Weltklimarat IPCC zu seinen finalen Beratungen über den aktuellen Sachstandsbericht zur Erderhitzung zusammen. Die Inhalte dieses Teils sollen in zwei Wochen veröffentlicht werden und sie werden wieder so dramatisch sein, dass der Generalsekretär der Weltwetterorganisation WMO vor den Folgen „apokalyptischer Ängste“ für die psychische Gesundheit junger Leute warnte. „Wir müssen vorsichtig sein, wie wir über die Ergebnisse der Wissenschaft berichten, über Kipppunkte, und ob wir über einen Kollaps der Biosphäre oder das Verschwinden der Menschheit sprechen“, sagte Petteri Taalas.

Mehr Mut für das Offensichtliche

Und dennoch scheint es fast unmöglich, die Wachstumserzählung „nüchtern, empirisch und damit auch kritisch zu betrachten, ohne in eine kommunistische oder sozialistische Ecke gestellt zu werden“, schrieb schon vor Jahren die Transformationsforscherin Maja Göpel. Das sei wenig erstaunlich, so Göpel weiter, denn mit jeder hegemonialen Geschichte und jedem Weltbild seien natürlich auch Interessen und Privilegien verknüpft. „Und gerade die Geschichte des grenzenlosen Wachstums erlaubt es, die Verteilungsfrage zu umgehen.“ Klar: So lang es angeblich ständig mehr von allem gibt, kann die ungleiche Verteilung als bloße Momentaufnahme gelten.

Es braucht also eine Menge Mut, sich dem entgegenzustellen. Den Rückhalt vieler junger Menschen – die ja nicht bloß vor der Kommunikation über die Apokalypse, sondern auch vor ebendieser bewahrt werden sollte – hätte die Politik. Für die Mehrheit der 16- bis 29-Jährigen in Deutschland erfüllt die soziale Marktwirtschaft laut einer aktuellen Spiegel-Umfrage das Versprechen „Wohlstand für alle“ nicht. Und auch die Unterstützung für den Kapitalismus wankt: 40 Prozent der jungen Befragten sehen diesen nicht als bestmögliches Wirtschaftssystem. Es wäre sicherlich spannend, den Jahreswirtschaftsbericht mal aus der Perspektive dieser Generation zu schreiben.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

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Unterschrift

Frauke Ladleif
Redakteurin

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