Kann man Nachhaltigkeit lehren? Eine Grundschule in Niedersachen und eine Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg haben darauf ihre ganz eigene Antwort. Für unsere Ausgabe 1.22 waren wir zu Besuch bei zwei Schulen, die den Lehrplan auf den Kopf stellen
„Team Windpark“ will mehr Geld verdienen und nebenbei das Klima retten. Dafür soll die Nordsee mit Windrädern vollgebaut werden – Vögel sind da nur lästig. „Team Vögel“ sieht das natürlich anders: Seine Mitglieder kämen schließlich zwischen die Räder. „Team Kegelrobben“ stört der Lärm, der beim Bau der Windparks gemacht wird – und dass die Menschen ihnen die Nahrung wegfischten. „Team Fischer*innen“ sieht das genau umgekehrt: Es sind doch die Robben, die zu viel Fisch fressen.
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 4b der Grundschule Wingst haben einen Wattenrat gebildet. Vor zwei Wochen waren sie auf Klassenfahrt in Cuxhaven und haben dort viel über die Probleme des Wattenmeers gelernt: Plastikflut, Containerschifffahrt, Überfischung, Meeresspiegelanstieg. Nun ist jedes Kind einem Team zugeordnet. Auch Naturschützer, Kapitäninnen, Bauern und Touristinnen sind vertreten. Sie sollen einen Kompromiss erzielen, um das Wattenmeer zu erhalten. Es sind intensive 25 Minuten, die die Kinder in ihren Rollen diskutieren.
„Wir möchten sie dabei unterstützen, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, zu argumentieren und für sich und andere einzustehen“, sagt Sabine Cordes. Die 60-Jährige spricht ruhig und zugewandt. Seit zehn Jahren leitet sie die Schule im niedersächsischen Wingst, einer kleinen Samtgemeinde südlich der Elbmündung. Das flache Gebäude liegt idyllisch an einem Hang, dahinter erstreckt sich der Wingster Wald. Auf dem verwinkelten Gelände wachsen Obstbäume, hier stehen Insektenhotels und Bienenstöcke. Drinnen, direkt am Eingang an der Wand, hängen gut ein Dutzend Auszeichnungen – für das Engagement als Umweltschule in Europa, als „Klima-Checker“, als Pilotschule „Globales Lernen“.
Die Schule will im Kleinen das, was sich die Vereinten Nationen global als Aufgabe gesetzt haben: „Wir möchten die Kinder befähigen, die Welt nachhaltig und gerecht zu gestalten“, sagt Cordes. In Deutschland ist diese Idee unter dem Begriff „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ bekannt und bereits in die Bildungspläne der Länder eingezogen. Ob sie ernsthaft verfolgt wird, hängt jedoch von den einzelnen Schulen ab, denn oft kommt sie einem Kulturwandel gleich. Schließlich geht es nicht nur um die reine Wissensvermittlung etwa von Umweltthemen, sondern ums große Ganze: um Nachhaltigkeit auch im gesellschaftlichen Sinne, um Verhalten, Haltung und Aktion. Wie können die Kinder in die Lage versetzt werden, ihr Wissen einzusetzen und damit selbst etwas zu bewirken? Kurz: Es dreht sich um die Frage, welche Kompetenzen in Zukunft wichtig sind – und wie Bildung sie stärken kann.
700 Kilometer südlich von Wingst steht eine weitere Schule der Zukunft. Auch wenn der erste Blick dies allenfalls erahnen lässt: Das Gebäude der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe versprüht den Charme der Sechzigerjahre – wäre da nicht das zehn Hektar große Gelände, ein riesiger Schulpark mit Wiesen, Wäldchen, einer offenen Bühne, einem Freiluftklassenzimmer, einem Schulgarten. Und wäre da nicht der neue Geist, den Rektor Micha Pallesche und, wie er betont, die gesamte Schulgemeinschaft der Schule eingehaucht haben. „Neues lernen in alten Räumen“, nennt Pallesche das.
Vor sechs Jahren hat hier das „Leben“ ein eigenes Fach bekommen. „Hier geht es um mich“, beschreibt es ein Mädchen in einem Video. „Wer ich bin, wie es mir geht, was ich kann, was ich bewirken kann.“ Zwei Stunden pro Woche dreht sich alles um Mut, Selbstständigkeit, Engagement und Verantwortung. In Klasse fünf kann man etwa „Freudebereiter“ sein für Mitschülerinnen und Mitschüler, denen es nicht gut geht. In der sechsten Klasse übt man Bewerbungsgespräche und bereitet sich auf Verantwortungsjobs vor, zu denen man ein Jahr später entsandt wird: ehrenamtliche Jobs im Quartier, im Seniorenheim, Kindergarten, beim Gnadenhof für Tiere. „Sie sind dort die Sahne auf dem Kuchen“, sagt Pallesche, „eine Bereicherung“ – und eine solche ist die Erfahrung auch für die Kinder. „Da werden sie stark.“
Pallesche ist seit 2011 Schulleiter. Unterhält man sich mit ihm, klingt er oft eher wie der umtriebige Gründer eines digitalen Start-ups. Worte wie „Kultur der Digitalität“ und „Design Thinking“ purzeln aus seinem Mund. Er spricht von Agilität, Selbstwirksamkeit, Eigenverantwortung, von neuen Lernorten und dem Unterricht als Experimentallabor. „Schule muss die SchülerInnen auf die sich rapide verändernden Lebenswelten vorbereiten“, sagt er und spricht eine Lücke vor der weiblichen Endung. Dafür brauche es andere „kulturelle Praktiken“ im Unterricht – solche, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, kreativ zu sein, gemeinschaftlich zu arbeiten, kritisch und problemorientiert zu denken und mitzubestimmen. „So, dass das Lernen für sie bedeutungsvoll ist.“ Unterricht sollte doch eigentlich „Aufricht“ heißen, findet er: Es gehe darum, die Kinder fürs Leben aufzurichten.
Phänomene statt Fächer
Der 46-Jährige mit Dreitagebart und knallgelbem Pulli führt über den Pausenhof am „Wunderland“ vorbei: früher ein Kinderhort, heute ein „Kinderort“, wie er sagt, mit einem von Schülerinnen und Schülern selbstorganisierten Ideenbüro, mit Räumen für Bewegung, Achtsamkeit, zum Denken und dem „Maker Space“, einem mit Kameras, Scheinwerfern, Greenscreen und Computern ausgestatteten Raum, in dem sich die Kinder digital austoben können oder „mal schnell ein Video drehen“, wie Pallesche sagt.
Hinter dem Wunderland wachsen auf einem kleinen Acker Maispflanzen, dazwischen leuchten orange Kürbisse. Eine Gruppe steht um Pflanzkästen herum. In ihnen wuchern Kräuter, manche Stellen sind jedoch kahl, nur vereinzelt sprießen dort zarte Rapspflänzchen, die Blätter teils abgefressen. Sechs Stück zählt Cecilia. „Beim letzten Mal waren es noch 18.“ Die Zwölfjährige gehört zu einer von zwei „Lerngruppen“ der Jahrgangsstufe sechs. An der Gemeinschaftsschule heißen Klassen Lerngruppen, Lehrer sind Lernbegleiterinnen und -begleiter, und bis zur zehnten Jahrgangsstufe bekommt man keine Noten.
Die Gruppe von Cecilia macht gerade ein „Klimaexperiment“, wie Lernbegleiter Dominik Oebel sagt. Im vergangenen Schuljahr habe sie schon im Labor bei wärmeren Temperaturen Pflanzen in unterschiedliche Böden aus der Region gepflanzt: in Kies vom Ufer des Rheins, Erde von einem Acker, Kompost aus dem Schulgarten, in die schwarze Erde Terra Preta. „Wir wollen herausfinden, welcher Boden zukunftsträchtig ist“, sagt Oebel. Nun wagt sich die Lerngruppe raus, arbeitet mit Raps unter realen Bedingungen. Und schon stoßen sie auf die ersten Probleme: Insekten, die ihnen die Pflanzen wegfressen.
Pallesche führt weiter ins Schulgebäude. Manche Türen stehen offen, geschäftiges Gemurmel hallt durch die Gänge. Lennox und Simon schneiden gerade ein Video zum Thema Plastik. Die beiden Elfjährigen nutzen dafür ihren Gruppenraum, andere werkeln im Flur oder in den freien Räumen nebenan. Für ihr Video haben Lennox und Simon Müllberge und Plastikstrudel im Meer gemalt und einen Text eingesprochen: Wie viel Tonnen Plastik die Deutschen im Jahr wegwerfen, erklären sie, wie sich die Menge reduzieren ließe und was jeder selbst tun kann. Das Video haben sie mit einem Tablet gedreht, das an einer Halterung am Tisch befestigt ist, später werden sie es ihrer Lerngruppe präsentieren. Alles zusammen, der Film, die Präsentation und wie sie an die Sache herangegangen sind, ist dann der Leistungsnachweis – Video statt Klassenarbeit sozusagen.
„Die Kinder lernen am meisten, wenn sie selbst aktiv sind, selbst etwas erschaffen“, sagt Pallesche. Ganz verbannt sind Prüfungen aber nicht – das Schulgesetz ließe das auch nicht zu. Aber wo es geht, nutzen Pallesche und sein Team ihre Spielräume. Von denen gebe es mehr als man gemeinhin denkt, sagt der Schulleiter. So sei auch das Fach enstanden, das Lennox, Simon und auch Cecilia gerade haben: „Themenorientiertes Arbeiten“, kurz: TheA. Biologie, Physik, Chemie, Technik und Geografie fließen hier ein. „Wir haben die Nebenfächer aufgelöst und Phänomene gesucht, die wir aus den unterschiedlichen fachlichen Perspektiven ganz lebensnah untersuchen“, sagt Pallesche. Die Schule wolle damit das Lernen in Zusammenhängen ermöglichen. „Der Klimawandel ist ja auch nicht in Fächer unterteilt.“
Jeden Freitagvormittag von acht bis zwölf Uhr arbeiten die Sechstklässler nun in vier Gruppen à 14 Kindern an jeweils einem Thema, knapp zehn Wochen lang, dann wird gewechselt. „Wir können so viel freier arbeiten als in dieser klassischen 45-Minuten-Struktur, in der man die Schülerinnen und Schüler wie am Nasenring durch die Manege zieht.“ All den TheA-Projekten liegen die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zugrunde. „Klimawandel, Hunger, Migration – das sind ja alles Themen, die für die Kinder in naher Zukunft bestimmend sein werden“, sagt Pallesche.
Auch im Lehrerzimmer in Wingst sind die 17 Ziele der Weltgemeinschaft an eine Tafel gepinnt. „Unsere Aufgabe ist, das abstrakte Globale auf den Alltag der Kinder runterzubrechen“, sagt Schulleiterin Sabine Cordes. „Wie komme ich zur Schule – mit dem Auto, Bus oder Fahrrad? Wie ist mein Pausensnack verpackt? Und woher kommt die Gurke auf dem Brot?“
Auch sie hat mit ihrem Team den Lehrplan durchforstet und überlegt, wie die vorgegebenen Inhalte mit Nachhaltigkeitsthemen verknüpft werden könnten. So steht in der 3. Klasse in Deutsch „Briefe schreiben“ an. Und so haben die Kinder in diesem Sommer ihre Zukunftswünsche an die drei Kandidatinnen und Kandidaten fürs Kanzleramt adressiert. „Sehr geehrter Olaf Scholz“, steht in einem Brief, „der Klimawandel macht mir Sorgen, deshalb habe ich dir falls Sie Bundeskanzler werden eine Liste aufgeschrieben: Rettet den Regenwald, werft keinen Müll in die Natur, baut nicht mehr soviele Diesel Autos (…) und sagen Sie den Leuten, dass sie nicht nur ans Geld denken sollen, sondern auch an die Umwelt. Es wäre das größte :)“
Geantwortet habe nur Annalena Baerbock, sagt Cordes, immerhin. Für die Kinder sei das wichtig gewesen. Selbstwirksamkeit nennt sie das. „Die Erfahrung, dass ihre Stimme zählt.“
AUF DEN WEG MACHEN
Für Schulen gibt es zahlreiche Initiativen, die dabei helfen, Nachhaltigkeit in den Schulalltag zu integrieren. Hier ein paar Tipps:
Schule im Aufbruch: Initiative, die unter anderem für einen wöchentlichen „Frei Day“ an Schulen eintritt, an dem sich Schülerinnen und Schüler mit Zukunftsfragen beschäftigen können und Projekte in der Nachbarschaft umsetzen
Schools for Earth: Bildungsprojekt von Greenpeace, das Beratung, einen CO2-Rechner, Unterrichtsmaterialien und regelmäßige Communitytreffen anbietet
21 Future: Initiative, die einwöchige „Lernreisen“ an Schulen durchführt. Bei „Gutes tun und lecker essen“ etwa werden Fairtrade-Gerichte gekocht und Menschen aus dem Viertel zum Essen eingeladen
Atmosfair: Die NGO, die für die Reduzierung von Treibhausgasen eintritt, bietet Unterrichtsmodule für Grundschulen zu Ursachen und Folgen des Klimawandels an und zeigt Handlungsoptionen auf
Haus der kleinen Forscher: Fortbildungen für Pädagoginnen und Pädagogen an Kitas und Grundschulen. Themen: Natur, Technik, nachhaltiges Handeln
Umweltschulen in Europa: Netzwerk von weltweit mehr als 30.000 „umweltverträglichen Schulen“
Außerschulische Lernorte: der Unverpacktladen an der Ecke, die Imkerin von nebenan, das Naturkundemuseum in der Stadt oder der Biohof auf dem Land – Kooperationen mit Orten in der Umgebung machen Nachhaltigkeit greifbar
Weitere Geschichten zum Thema lesen Sie in unserer Ausgabe 1.22 „Und jetzt alle“. In diesem Schwerpunkt dreht sich alles um Kinder und wie wir ihre Zukunft schützen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!