Gut acht Jahre ist es her, dass die Atomkatastrophe in Fukushima die Welt in Atem hielt. Zumindest in Deutschland war danach klar: Atomkraft ist zu gefährlich, um ihre Nutzung weiter zu verfolgen. Am 6. Juni 2011 verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel deswegen den stufenweisen Atomausstieg bis 2022. Jetzt, gut zwei Jahre vor Ablauf der Frist, melden sich auf einmal wieder die Befürworter der nuklearen Energiegewinnung zu Wort. Kernkraftwerke könnten das Problem der CO2-Emissionen lösen, behaupten sie und Zeitungen wie die Welt oder die Zeit öffnen ihnen dafür ihre Spalten. In einem Gastbeitrag für die Zeit plädiert der Informatiker Rainer Klute für den Bau neuer Atomkraftwerke in Deutschland. Seit dem Beschluss zum Atomausstieg hätten Physiker und Ingenieure große Fortschritte gemacht – „unbemerkt von einer atomhysterischen Öffentlichkeit“.
Für Klute, Vorsitzender des „bewusst partei- und konzernunabhängigen“ Pro-Atomvereins Nuklearia e.V., liegt die Zukunft in den sogenannten schnellen Brütern. Das sind Reaktoren, die als Kühlmittel statt Wasser flüssiges Natrium verwenden. Bei dieser Methode bleibt zwar immer noch viel Atommüll übrig, allerdings strahlt dieser weniger stark. Auch bislang angefallener Atommüll – für den es weltweit nach wie vor kein einziges Endlager gibt – lässt sich in schnellen Brütern als Brennstoff nutzen. Was dann übrig bleibt, strahlt nicht mehr 100.000 Jahre, immerhin aber noch mehrere hundert Jahre.
„Das Potenzial ist gewaltig. Allein aus den ‚abgebrannten‘ Brennelementen und dem abgereicherten Uran ließe sich die Bundesrepublik nicht nur komplett mit Strom versorgen“, schreibt Klute. „Denkbar ist ebenfalls, aus dem nuklearen Abfall Energie für Wärme- und synthetische Kraftstoffgewinnung zu schöpfen.“ Das klingt wie eine nette Recyclingidee, die das Müll- und CO2-Problem auf einmal lösen würde. Dass allerdings schnelle Brüter in vielen Ländern aus Sicherheitsbedenken und Kostengründen nicht weiterentwickelt wurden? Atomhysterie, laut Klute. Doch wenn Natrium, wie bei einem Leck, mit Luft in Kontakt kommt, fängt es explosionsartig Feuer. Bei einem schnellen Brüter in Russland ist das bereits mehrfach passiert. Ein weiteres Sicherheitsrisiko der schnellen Brüter, an denen nun schon seit über 70 Jahren geforscht wird: Sie können zur Herstellung von waffenfähigem Plutonium genutzt werden. Das räumt auch Befürworter Klute ein, er sieht die Lösung in einer strengen Überwachung der Internationalen Atomenergiebehörde. Wie sie das in autoritär geführten Staaten leisten soll, darauf geht er nicht ein.
In der Zeitung die Welt machen derweil die Publizisten Nils Heisterhagen und Stefan Laurin für eine andere „neue, saubere Form der Atomkraft“ Stimmung. „Es wird bald bessere Formen der Kernenergie geben, als wir sie heute kennen“, verheißen sie. Gemeint ist die Kernfusion. An ihr wird bereits seit den Fünfzigerjahren geforscht, die Entwicklung der Technik verschlingt Milliarden. Ziel ist es, Vorgänge im Inneren der Sonne zu imitieren und so Energie zu erzeugen. Die Atomkerne der Wasserstoff-Isotope Deuterium und Tritium sollen dafür miteinander verschmelzen. In Frankreich bauen die Europäische Union, die USA, China, Südkorea, Japan, Russland und Indien gemeinsam an dem Forschungsreaktor ITER. Milliardäre wie Jeff Bezos und Bill Gates investieren in Start-Ups, die sich an der Technologie versuchen.
Bei dieser Art der Energiegewinnung würde weniger radioaktiver Abfall übrig bleiben, dessen Halbwertzeiten zudem geringer seien. Eventuell ließe sich auch der Abfall wiederverwerten. „Klimaneutraler Strom also ohne die hässlichen Begleiterscheinungen der Atomenergie“, urteilen die Autoren vorschnell – denn die Technik ist weit davon entfernt, zu Ende erforscht, geschweige denn marktreif zu sein. Vor 2055 rechnen Experten mit keinem einsatzbereiten Kraftwerk dieser Art. Frühestens.
Ein schlagkräftiges Argument gegen die neuen Atomkraftbefürworter lieferte dieses Jahr die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften. In ihrem Report „Energiesysteme der Zukunft“ kam sie zu dem Urteil: Atomenergie wird gegenüber erneuerbaren Energien schlichtweg nicht konkurrenzfähig sein, weil sie zu teuer ist. Derzeit tragen 449 Kernkraftwerke elf Prozent zur weltweiten Stromerzeugung bei. Um den Bedarf zu decken, müsste man also tausende neue Kraftwerke bauen. „Auch neue AKW-Typen werden als Technologie mit hohen Investitionskosten zum zukünftigen Energiemarkt kaum wirtschaftlich sein“, schreibt Dirk Uwe Sauer, Leiter des Reports, im Tagesspiegel. Zahlen dazu liefert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: Es berechnet den durchschnittlichen Verlust bei Neuinvestitionen pro Atomkraftwerk auf 4,8 Milliarden Euro.
Die Kosten für die Lagerung des Atommülls und für den Rückbau der Reaktoren ist da noch nicht einmal eingerechnet. Wie hoch die sind und wer sie wird tragen müssen, ist zudem unklar. „Kein einziges Land in Europa hat bislang ausreichend vorgesorgt, um die Kosten der Endlagerung des Atommülls zu finanzieren“, sagt der Wirtschaftsingenieur Ben Wealer. Mit einem internationalen Forscherteam veröffentlichte er am Montag den ersten „World Nuclear Waste Report“. „Es droht, dass die reellen, massiven Kosten letztendlich von den Steuerzahlern getragen werden.“
Und auch die laufende Erzeugung von Atomstrom ist teuer: Für den britischen Reaktor Hinkley Point C etwa ließ sich der Betreiber eine garantierte Einspeisevergütung von rund 10,8 Cent pro Kilowattstunde plus Steigerung entsprechend des Preisindexes über 35 Jahre zusichern. „Die letzte Ausschreibung für Photovoltaikanlagen auf Freiflächen in Deutschland hat im Mittel einen Vergütungsbedarf von 4,8 Cent pro Kilowattstunde über 20 Jahre ergeben“, setzt Dirk Uwe Sauer diese Zahl ins Verhältnis. Bei der Kernfusion wird es noch teurer: Der Bau des Forschungssreaktors ITER wird mindestens 20 Milliarden Euro verschlingen – wirtschaftlich kann man das kaum nennen.
Atombefürworter Rainer Klute lässt sich davon nicht beirren. Er nennt den Atom- und Kohleausstieg polemisch ein „riskantes und teures Experiment“ – und nicht den Betrieb.