Es ist eine positive Rückkopplung im besten Sinne: Je mehr Menschen aufs Rad steigen, desto mehr müssen die Städte sich daran anpassen – und umgekehrt. Jedenfalls macht Radfahren mehr Spaß denn je, findet Wolfgang Hassenstein

Krisengewinner, das Wort ist ja nicht gerade positiv besetzt. Aber wenn’s der Gesundheit und der Umwelt dient, gern! Ich fand es jedenfalls eine wunderbare Nachricht, dass in der ersten Jahreshälfte im Fahrradhandel größere Zufriedenheit herrschte als in jedem anderen Zweig des Einzelhandels. „Der Mai war der stärkste Monat, den die Branche jemals erlebt hat“, freute sich David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband. Auch auf den Straßen hält der Boom an: Allmorgendlich finde ich mich in rollenden Pulks wieder – kopenhagenhafte Verhältnisse an der Elbe. Das ist Klimaschutz live.

Täuscht der Eindruck, oder nähern sich die Radlerinnen und Radler im Großstadtverkehr der kritischen Masse an? Ihre Zahl steigt ja nicht erst seit Corona, sondern seit vielen Jahren. Jenseits der Hauptverkehrsadern sind sie immer öfter nicht die Underdogs, sondern in der Mehrheit. Dazwischen wirken viele Autos, sorry, dinosaurierartig – ein alter Vergleich, der heute besser passt denn je. Denn die oft überdimensionierten Panzerechsen mit Verbrennungsmotor schaffen es ja nicht, sich schnell genug an die sich rasant verändernden Lebensbedingungen auf dem Planeten anzupassen. Was derzeit passiert, wird für Paläontologen der Zukunft wie ein Meteoriteneinschlag wirken.

Wem das übertrieben erscheint, der schaue sich die Bilder von den infernalischen Bränden im Westen der USA an. Wie vor einem halben Jahr in Australien und zum Sommerbeginn in der sibirischen Arktis lodern dort Feuer nie dagewesener Größe – und erfassen auch Gebiete, in denen es normalerweise nicht brennt. Zu heiß, zu trocken, dann ein Flammenmeer. Das ist Klimawandel live.

Dass die Folgen der Erderwärmung inzwischen so präsent sind, ist schrecklich, führt aber offenbar dazu, dass sich die Politik endlich bewegt. Die Anhebung des CO2-Reduktionsziels in der EU von 40 auf 55 Prozent bis 2030 – Ursula von der Leyens Plan wäre in der Zeit vor Fridays for Future unvorstellbar gewesen. Zwar ist das mit Blick aufs Pariser Klimaziel noch immer zu wenig, und die Umsetzung steht in den Sternen. Aber es mehren sich Anzeichen, dass die Klimaschutzprämisse, wie von Umweltschützern gefordert, jedes Politikfeld erreicht. Wirtschaftsminister Peter Altmaier – der beim Ausbau der Erneuerbaren oft auf die Bremse tritt – macht sich für einen CO2-Preis stark, der sich an Europas Klimaschutzziel orientiert. Das ist doch mal was.

Es ist klar, dass das Klima nur gerettet werden kann, wenn Politiker das ganz große Rad drehen. Das gilt auch für den Stadtverkehr: Es reicht nicht, ein paar Pop-up-Radwege einzurichten, wo es niemandem wehtut. Damit die Zahl der Radfahrerinnen und -fahrer nachhaltig und maximal wächst, sind mutige stadtplanerische Würfe angesagt. Der dafür nötige Platz muss den Autos weggenommen werden – wem sonst?

In Hamburg etwa werden zwar neue Radwege gebaut, aber oft immer noch so schmal, dass sicheres Überholen kaum möglich ist. Naturgemäß gibt es aber auf ihnen große Tempounterschiede, abhängig vom Grad der Fitness, der Eile, des Reifendrucks und der zunehmenden E-Motorisierung.

Ein Hinweis an dieser Stelle an die Radfahrer selbst: Damit wir uns nicht in die Quere kommen, sollten wir uns ausnahmsweise etwas von der Autobahn abgucken: rechts fahren, links überholen, vorher ein Schulterblick. Das machen sie auch in Kopenhagen so.