Die Welle der Realitätsverweigerung ist von Washington bis nach Niedersachsen geschwappt, stellt Wolfgang Hassenstein erschrocken fest. Doch er sieht gute Chancen, dass Vernunft und Solidarität am Ende siegen
Ich war vor Kurzem mit meinem 95-jährigen Vater auf dem Stadtfriedhof von Göttingen spazieren. Meine Heimatstadt ist stolz auf ihre vielen Nobelpreisträger und erinnert mit einem „Nobel-Rondell“ an acht einst in Stockholm geehrte Physiker und Chemiker, die hier begraben liegen. Das wollten wir uns mal ansehen. Doch schon von Weitem sahen wir, dass die Schrift auf den Informationsstelen an diesem verschneiten Januarmorgen übersprüht war. Unter dem Porträt von Alfred Nobel prangte der Schriftzug „alles LÜGE“, dazu ein großes „Q“. Die Farbe war noch frisch.
Wie bizarr. Ist tatsächlich ein Ausläufer des Verschwörungskultes um QAnon, der auch zum Sturm aufs Kapitol führte, über den Atlantik bis ins südliche Niedersachsen geschwappt? Weniges erscheint mir so rätselhaft und bedrohlich wie die in den USA grassierende Wahrheits- und Wissenschaftsfeindlichkeit, die auch hierzulande Anhänger findet.
Ich frage mich manchmal, was diese Leute eigentlich tun, wenn sie zum Beispiel Zahnschmerzen haben oder einen Ausflug planen. Leiden sie stoisch, weil sie die Zahnheilkunde ablehnen? Verzichten sie auf Wetter-Apps, weil ihnen die Meteorologie verdächtig erscheint? Wohl kaum. Offenbar werden wissenschaftliche Erkenntnisse vor allem dann abgelehnt, wenn ein eigener Vorteil nicht unmittelbar erkennbar ist.
Doch vieles spricht dafür, dass Vernunft und Gemeinsinn stärker sind als Fake News und Verschwörungsmythen. So betrachten laut einer globalen UN-Umfrage inzwischen fast zwei Drittel der Menschheit den Klimawandel als das, was er aus Sicht der Wissenschaft zweifellos ist: als einen „globalen Notfall“. Drei Viertel der Bewohner kleiner Inselstaaten sind dieser Ansicht, fast ebenso viele in den westlichen Industrienationen.