Radikaldebatte
Radikal rational
Wie viel Radikalität braucht die Welt? Es darf gern etwas mehr sein, findet Redakteurin Katja Morgenthaler. Aber eigentlich würde sie lieber „Vernunft“ dazu sagen
26.11.2020
Ich habe es mir angewöhnt, mit neongelber Signalweste zur Arbeit zu radeln. Sieben Kilometer durch die Großstadt. Ich trage einen Helm. Und selbst bei Tag fahre ich mit Licht. Ich habe zwei kleine Kinder und will nichts riskieren. Aber das liegt angesichts der natürlichen Überlegenheit des Autoverkehrs nicht in meiner Macht. Fast jeden Morgen habe ich „Nahtoderlebnisse“ – Momente, in denen das Adrenalin den Magen im überraschenden Angesicht einer Kühlerhaube kurz zum Salto zwingt, bevor die Erkenntnis gewinnt: Wieder mal davongekommen. Knapp. Zum Glück.
Neulich platzte mir wieder fast die Helmschnur: Ein Mensch im SUV hatte mich beim sportlichen Überholen fast überrollt. Warum? Einfach, weil er es konnte. Ich dachte: Warum darf dieser Zwei-Tonnen-Panzer mit Verbrennungsmotor diese Straße überhaupt benutzen? Warum haben Fußgängerinnen und Fußgänger, Radfahrerinnen und Radfahrer in unseren Städten nicht automatisch Grün oder Vorfahrt? Ja, überlegte ich, diese Menschen sind nicht nur schwächer, sie schonen auch Luft, Gehör und Klima. Der Staat sollte ihnen Sonderrechte geben. Einfach, weil er es könnte.
Aber einfach ist da natürlich gar nichts. Autofreie Städte oder Fahrräder mit eingebauter Vorfahrt vor Autos? Außerhalb meiner Öko-Blase dosiere ich solche Ideen lieber sparsam. In vielen Ohren klingen sie weltfremd und radikal. Es gilt als vermessen, Reformen zugunsten Schwächerer oder gar der Umwelt zu verlangen, zivilisatorischen Fortschritt einzufordern – sei es von SUV-Begeisterten oder anderen Menschen, denen die Welt bequem erscheint, so wie sie ist. Dabei sind die meisten ökologisch-sozialen Forderungen weder weltfremd noch radikal. Sie sind vernünftig und konsequent.
Ich träume nicht nur von Parks statt Parkplätzen. Ich möchte – zum Beispiel – auch in Supermärkten ohne Produkte aus Tier- und Menschenquälerei einkaufen, in Möbelläden ohne Urwaldrodung, in Geschäften ohne Verpackungswahnsinn. Ich möchte, dass internationale Verträge das Klima und die Artenvielfalt nicht nur auf dem Papier retten, sondern ganz in echt. Und dass zu diesem Zweck eben, wenn nötig, auch die ein oder andere Fehlentwicklung verboten wird: Flüge unter tausend Kilometern, das Verspeisen seltener Fischarten, Billigmode zum Wegwerfen. Solche Dinge. Statt „ich möchte“, möchte ich eigentlich sagen: „Ich will.“ Aber ich will ja nicht frech werden.
Ich will nur in einer Welt leben, in der man nicht schief angeschaut wird, nur weil man Falsches falsch nennt. Ich möchte in einer Welt leben, in der es als gut gilt, radikal zu sein. Denn radikal zu sein bedeutet ja, ein Problem bei der Wurzel zu packen, anstatt ein wenig an dessen Zweigen herumzuschnippeln oder den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass das schon irgendwie reichen wird, während die Wurzel des Übels weiter unsere Lebensgrundlagen zerstört. Man könnte radikal meiner Meinung nach auch mit lösungsorientiert, effektiv oder rational übersetzen. Seien wir endlich vernünftig, werden wir alle radikal.
Klimakrise, Artensterben, Müll überall – die Erde steht vor dem Ökokollaps. Wie radikal müssen wir sein, um ihn noch abzuwenden? Das haben wir uns beim Greenpeace Magazin gefragt. Herausgekommen ist die Serie #Radikaldebatte. Hier lesen Sie persönliche Einsichten und Gedanken über radikale Konzepte im Kampf für eine bessere Welt