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«Wir sind hier, wir sind laut» - Klimaschutz-Großprotest vor der Wahl Von Fatima Abbas, Weronika Peneshko und Stella Venohr, dpa

Es ist eine weltweite Protestaktion. In Deutschland aber kommt sie zwei Tage vor einer Bundestagswahl, die als wegweisend gilt. Die Botschaft von Fridays for Future ist klar: An uns kommt die Politik nicht vorbei.

Berlin (dpa) - Auf einmal fängt die alte Frau an zu weinen. «Es geht mir um meine Kinder, meine Enkel und um meine Urenkel - dass die auch noch leben können auf diesem Planeten», sagt die 83-Jährige mit gebrochener Stimme. Sie demonstriert am Freitag mit im Berliner Regierungsviertel für mehr Klimaschutz, wie viele Tausende Menschen in Berlin und Zehntausende in ganz Deutschland - kurz vor der Bundestagswahl am Sonntag.

Fast direkt neben der 83-Jährigen machen sich die beiden Klima-Aktivistinnen Greta Thunberg und Luisa Neubauer bereit, um den Demonstrationszug durch das Regierungsviertel anzuführen. «Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!», schreien die jungen und alten Menschen, die Thunberg und Neubauer hinterher laufen. Auf Plakaten steht: «Wir haben nur noch eine Wahl.» Oder: «Klimaziele umsetzen, aber schnell.»

Angestellte eines Bio-Marktes verteilen Äpfel an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Demo, Kinder sitzen am Fenster ihrer Kita und halten kleine Schilder hoch. Interessierte Augen schauen aus den Häusern, als die bunte, singende Menge vorbeizieht. Später wird die 18-jährige Thunberg die Bühne nach ihrer Rede unter Polizeischutz verlassen - drei Männer bedrängen und beleidigen sie.

Thunberg war extra aus Schweden nach Berlin angereist. Mit ihr, die sich vor Jahren Woche um Woche alleine vor das schwedische Parlament hinsetzte und für das Klima protestierte, hat alles angefangen - inzwischen ist Fridays for Future eine Massenbewegung. Vor dem Bundestag spart Thunberg nicht mit deutlichen Worten. «Deutschland ist der viertgrößte Kohlenstoffdioxid-Emittent in der Geschichte, und das bei einer Bevölkerung von 80 Millionen Menschen», sagte sie in einer umjubelten Rede vor dem Bundestag. «Deutschland ist objektiv gesehen einer der größten Klima-Bösewichte.»

Druck aufbauen, das ist das Ziel der Proteste. Politiker reagieren, Klimaschutz gehört zu den wichtigsten Themen im Wahlkampf. Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sprach am Freitag überraschend am Rande einer Demonstration von Fridays for Future in Köln mit Umweltaktivisten. Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet schickte in einer kurzen Botschaft auf Instagram einen «herzlichen Gruß» an alle, die draußen seien. Und versprach: «Für die CDU ist ganz klar, nicht erst seit heute: Deutschland muss beim Klimaschutz schneller und besser werden.» Zugleich müssten Arbeitsplätze erhalten werden. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz dankte auf Twitter Fridays for Future für das Engagement. «Ich sage ausdrücklich: Dass heute #Klimastreik ist, ist richtig.» Klimapolitik gehöre zu den wichtigen Themen, über die bei der Wahl entschieden werde.

Nach der Wahl aber muss eine neue Bundesregierung grundlegende Entscheidungen treffen. Es kommt darauf an, wie verschärfte Klimaziele genau erreicht werden sollen. Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral werden, Fridays for Future fordert dies schon bis 2035. Der Ausbau des Ökostroms aus Wind und Sonne aber kommt auch wegen langer Planungs- und Genehmigungsverfahren nicht schnell genug voran. Nicht nur Fridays for Future, auch Umweltverbände fordern einen viel schnelleren Kohleausstieg, bisher ist dieser bis spätestens 2038 geplant. Es geht außerdem darum, ob es zum Beispiel eine Solarpflicht auf Dächern geben soll oder ein Ausstiegsdatum für fossile Verbrennungsmotoren.

«Die kommende Legislaturperiode ist historisch», sagt Neubauer, die wohl prominenteste deutsche Stimme der Bewegung. Wen die Menschen im Land aus ihrer Sicht wählen sollten, um alles fürs Klima herauszuholen, deutet die junge Aktivistin höchstens an. Es sei «natürlich wichtig, dass Menschen so klimabewusst wie möglich wählen», sagt sie und verweist auf die jüngste Wahlprogramm-Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Die Analyse sieht die Grünen in der Gesamtbewertung zu den Klimaschutz-Vorhaben auf Platz eins, die FDP belegt den letzten Platz. Neubauer ist selbst Mitglied bei den Grünen, betont aber immer wieder, dass es nur «eine Mitgliedschaft auf dem Papier» sei. Sie und ihre Mitstreiter weisen unermüdlich darauf hin, dass sie keines der Wahlprogramme der Parteien für geeignet halten, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen.

Was Letzteres bedeutet, sagt die Wissenschaft nicht erst seit gestern: ein Anstieg der Meeresspiegel, ein höheres Risiko von Dürren, Hitzewellen und Überschwemmungen. Die Liste ist lang - und die Botschaft der Aktivisten umso klarer: Fürs Klima braucht es neben der Wahlurne auch die Straße.

«Es machen sich so viele Menschen wie noch nie vor einer Wahl Gedanken zum Klima», sagt Arndt Leininger, Politikwissenschaftler an der Technischen Universität in Chemnitz. Gleichzeitig betont er, dass sich das nicht automatisch in Wählerstimmen ummünzen lasse. Dennoch gelte: Wenn ein Thema als wichtig wahrgenommen werde, profitiere erfahrungsgemäß die Partei, der die größte Kompetenz bei dieser Frage zugesprochen wird. Leininger sagt, das seien eindeutig die Grünen.

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