Erst kam die Flugscham und dann die Corona-Pandemie. Inzwischen ist die Luftverkehrsbranche am Boden, wortwörtlich. „Vom fliegenden Personal der deutschen Fluggesellschaften wie Lufthansa haben viele seit zehn Monaten kein Flugzeug mehr von innen gesehen“, sagt Dennis Dacke von der Dienstleistungsgewerkschft Verdi dem Greenpeace Magazin. Die Gewerkschaft vertritt Beschäftigte aus allen Sektoren des Flugverkehrs, wie Boden- und Cateringpersonal, Flugbegleitende, Pilotinnen und Piloten sowie Angestellte in der Verkehrstechnik.
„Wenn die Lufthansa derzeit zweihundert Flüge am Tag betreibt, ist das viel. Das klingt erstmal gar nicht so wenig, ist aber im Verhältnis zu vorher gar nichts“, erklärt Dacke. Im Corona-Jahr 2020 sei die Zahl der Flüge um über neunzig Prozent gesunken. Für den Klimaschutz ist das ein Gewinn, für die Beschäftigten der Flugindustrie ist es existenzbedrohend. In diesem Spannungsfeld wollen die Nichtregierungsorganisation „Stay Grounded“ und die britische Gewerkschaft Public and Commercial Services Union (PCS) ansetzen. Das Motto: die Krise als Chance sehen.
Am Montag haben die beiden Organisationen ein Diskussionspapier mit dem Titel „Sichere Landung“ veröffentlicht. Darin stellen Klimaschutz-NGO und die Gewerkschaft Ideen für die Zukunft des Sektors vor. Sie wollen verhindern, dass der Flugverkehr nach der Pandemie wieder zu alter Größe emporsteigt – und zwar ohne, dass die Beschäftigten im Stich gelassen werden. Schnell und trotzdem sozialverträglich soll das Ganze ablaufen. „Unsere Vision ist eine Welt, in der das Wohl und die Sorge um Mensch und Natur im Zentrum stehen, nicht der Profit“, heißt es in der Publikation.
Die Autorinnen und Autoren kritisieren unter anderem die staatlichen Finanzhilfen. So hätten die Regierungen die erheblichen Geldflüsse an die Fluggesellschaften – bis November letzten Jahres wurden allein in Europa Rettungspakete mit einem Gesamtvolumen von mehr als 37 Milliarden Euro beschlossen – nicht an wirksame soziale und ökologische Auflagen geknüpft.
Das habe zum einen dazu geführt, dass die Hilfe nicht sozialverträglich verteilt worden sei, so hätten viele der Beschäftigten in Kabine und an Boden trotz Milliardenspritzen ihren Job verloren oder seien davon bedroht, während die anderen sich mit schlechteren Arbeitsbedingungen konfrontiert sähen. Zum anderen werde die Branche so dabei unterstützt, nach Abklingen der Pandemie zu einem fragwürdigen Status Quo zurückzukehren. Immerhin seien die Emissionen des zivilen Luftverkehrs 2018 für rund sechs Prozent der globalen Klimaerhitzung verantwortlich gewesen. Profitiert habe aber nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung. (siehe Infografik).
Die Autorinnen und Autoren des Papiers hinterfragen dieses System grundsätzlich. Dafür sei jetzt – pandemiebedingt – der Zeitpunkt gekommen. „Wir haben die ersten Schritte schon getan, der Flugverkehr ist ganz unten“, sagt Tahir Latif von der PCS im digitalen Pressegespräch. Latif und Co. fordern, den Flugverkehr auch nach der Pandemie „unten zu lassen“ und so schnell wie möglich mit einem nachhaltigen und sozialverträglichen Umbau des gesamten Flugsektors zu beginnen. Sie schlagen etwa vor, Werbung für Flugreisen zu verbieten, Umwelt- und Lärmschutzauflagen zu erhöhen, Flughafenslots zu begrenzen, unfaire Subventionen zu streichen, Steuern auf Kerosin und Vielfliegerei einzuführen und – schließlich – Flughäfen zurückzubauen.
Magdalena Heuwieser von Stay Grounded pflichtet Tahir Latif bei: „Wir wollen nicht alle Flüge verbieten, sondern differenzieren zwischen unsinnigen und notwendigen Flugreisen.“ So könnten Videokonferenzen viele Flugreisen ersetzen. Auch könnten Reisende wieder längere Strecken am Boden zurücklegen, beispielsweise mit Nachtzügen oder modernen Segel- und Solarschiffen. Wirtschaft und Arbeit müssten entschleunigt, das Reisen wieder bewusster werden.
Die entfallenden Arbeitsplätze sollten durch einen Ausbildungs- und Anstellungsstopp im Luftfahrtsektor, durch Umschulung und Weiterbildung kompensiert werden. Als mögliche Ausweichbranche nennt das Papier die Bahngesellschaften, wo es schon jetzt einen hohen Personalbedarf gäbe, der im Zuge des Transformationsprozesses weiter steigen werde oder auch „zukunftsweisende grüne Industriezweige“. Damit ist beispielsweise gemeint, ein klimagerechtes Verkehrswesen aufzubauen, Gesundheits- und Sozialdienste aufzustocken, aber auch agrarökologische Landwirtschaft und Aufforstung zu betreiben. Außerdem seien viele Fähigkeiten in Bereichen wie Verkauf, Marketing, Management, Kundendienst, Logistik, Datenanalyse, Ingenieurwesen, Fertigung oder Reinigung auf andere Branchen übertragbar.
Parallel fordern NGO und Gewerkschaft eine soziale Absicherung und finanzielle Unterstützung der betroffenen Menschen, nicht aber des Industriezweiges, für die Übergangszeit vom Flugverkehr zur klimafreundlicheren Mobilität. Finanziert werden sollen diese Zahlungen über Fonds, die sich unter anderem aus Steuereinnahmen von Luftfahrt und fossiler Industrie speisen. Weiter schlagen die Initiatorinnen des Papiers vor, Fluggesellschaften zu verstaatlichen, zusammenzulegen oder an Kooperativen und Genossenschaften zu übertragen.
Das geht Dennis Dacke zu weit: „Verstaatlichung ist viel zu radikal und nur auf nationaler Ebene sowieso nicht sinnvoll. Und hinzugehen und – in einem Land wie Deutschland, das Weltmeister im Urlaub machen ist – zu sagen: Du darfst nicht mehr in den Urlaub fliegen, das wird meiner Ansicht nach nicht funktionieren.“ Außerdem betont der Verdi-Experte für Luftverkehr, dass es auch eine Geschlechter- und Klassenfrage sei, wie einfach das berufliche Umsatteln funktioniere. So müsse beispielsweise ein Pilot, der als Zugführer arbeite, zwar auf bis zu 10.000 Euro brutto pro Monat* verzichten. Das sei bei den für diese Berufsgruppe üblichen Ausbildungsschulden von etwa einer viertel Million Euro nicht erfreulich, aber „in der Regel“ machbar. Anders sei es bei Anlernjobs in der Kabine oder am Boden. Hier sind mehrheitlich Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte beschäftigt, die ein Arbeitsplatzverlust am härtesten treffe. „Im Bereich Catering arbeiten beispielsweise viele aus den Philippinen oder Osteuropa, die oft auch noch Familien zu Hause mit ihrem Gehalt ernähren“, sagt Dacke.
Aber der Gewerkschafter stimmt mit der Position im Diskussionspapier überein, dass der Flugverkehr über kurz oder lang reduziert werden müsse. Deshalb sei es „immens wichtig“, mit den Beschäftigten jetzt schon eine berufliche Neuausrichtung zu planen und sie bei Umschulung und Ausbildung zu unterstützen. „Intelligenten Personalumbau statt fantasielosen Personalabbau“ nennt er das und sieht den Pflegesektor als eine mögliche Ausweich-Branche. Allerdings brauche das alles seine Zeit. Dacke schätzt, dass es mindestens zehn Jahre dauern werde, bis die gesellschaftliche Akzeptanz und politischen Abstimmungsprozesse so weit sind.
In der Branche selbst hat sich der Gedanke eines komplett um- oder abgebauten Flugsektors bisher nicht durchgesetzt. So geht die Lufthansa Group zwar erstmal von geringeren Flug-Kapazitäten im Vergleich zu 2019 aus, etwa fünfzig Prozent für 2021, aber davon, den Flugverkehr dauerhaft zu verringern, ist keine Rede. „Mit einer Rückkehr der Passagierzahlen auf das Vorkrisenniveau rechnen wir, beziehungsweise der Internationale Branchenverband IATA, Mitte des Jahrzehnts“, hieß es kürzlich von Seiten der Fluggesellschaft.
Wer am Ende Recht behält, steht in den Sternen. Sicher ist nur, wenn Menschen wie Magdalena Heuwieser von Stay Grounded oder Tahir Latif von der britischen Gewerkschaft PCS es nicht schaffen, ihre Idee eines sozialökologischen Strukturwandels in die Öffentlichkeit zu tragen, und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bei den Plänen nicht mitziehen, wird sie wohl bleiben, was im Titel steht: ein Traum.
*Hinweis: Den genannten Betrag haben wir am 8.2. um 11 Uhr zu „bis zu 10.000 Euro pro Monat“ korrigiert.