Noch gilt das Klima am Bodensee als angenehm: Warm ist es, vom größten deutschen Binnensee her weht häufig eine kühle Brise, auf der Insel Mainau stehen Palmen wie ein mediterranes Versprechen. Damit das Klima hier und anderswo auch in Zukunft lebenswert bleibt, griffen die Konstanzer im Mai zu drastischen Maßnahmen: Der Gemeinderat der Stadt rief als erster in ganz Deutschland den Klimanotstand aus.
Ein großes Wort, der Klimanotstand („Climate Emergency“). Vancouver, New York City und Sidney waren Weltstädte, die damit vorangingen. In Irland, Großbritannien, Frankreich haben die Parlamente den Klimanotstand ausgerufen. Auch in Österreich könnte es bald so weit sein und in Deutschland hat die Linksfraktion einen entsprechenden Antrag eingebracht. Doch was ist mit dem Begriff „Klimanotstand“ überhaupt gemeint?
Im Kontext von Klimaschutz-Protesten war der Terminus lange schon bekannt, einer breiten Öffentlichkeit wurde er im Dezember 2018 vorgestellt, als der Club of Rome im EU-Parlament seinen „Climate Emergency Plan“ darlegte: Zehn Maßnahmen gegen die globale Erwärmung, die jetzt ergriffen werden müssten, bevor es für viele Menschen zu spät ist. In dem Bericht heißt es: „Um die schlimmsten der prognostizierten Ergebnisse zu vermeiden, müssen die globalen CO2-Emissionen bis 2030 um die Hälfte und bis 2050 auf Null reduziert werden. Dies ist eine beispiellose Aufgabe, die eine Reduktionsrate von mindestens 7 Prozent jährlich erfordert; kein Land hat bisher mehr als 1,5 Prozent erreicht. Die einzig mögliche Reaktion sind Sofortmaßnahmen („emergency actions“), die die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Systeme der Menschen verändern werden.“ Soweit das Expertengremium, das schon 1972 auf die Grenzen des Wachstums hinwies und die Menschheit dazu ermahnte, Wohlstandsentwicklung und Ressourcenverbrauch voneinander zu trennen. 47 Jahre später scheint die Krise, vor der der Club of Rome gewarnt hatte, in vollem Gange.
Die Erklärung eines Notstandes soll der Öffentlichkeit klar machen, dass der Klimaschutz eine Aufgabe höchster Priorität ist. Alle Kräfte aus Politik und Bevölkerung sollen gebündelt werden, um gemeinsam sofortige und entschlossene Anstrengungen zum Klimaschutz zu leisten. Dies forderten weltweit Klimaschutzbewegungen und allen voran die „Fridays for Future“-Bewegung. In Konstanz griffen die fünf Fraktionen des Gemeinderates am 2. Mai 2019 den Aufruf der jungen Konstanzer Klimaschützer auf. Die hatten die bisherige lokale Klimapolitik in den Monaten davor scharf kritisiert und immer wieder mit Protesten auf ihre Forderung aufmerksam gemacht: Mehr Klimaschutz, und zwar sofort.
Der Klimanotstand ist das Label, die Maßnahmen der Inhalt. Und die können überall anders aussehen. In Konstanz bedeutet der Klimanotstand konkret, dass der Gemeinderat die Eindämmung der Klimakrise und ihre Folgen besonders in den Blick nehmen will. In Zukunft müssen bei allen Entscheidungen des Gremiums auch die Auswirkungen auf den Klimaschutz berücksichtigt werden. Die Stadt Konstanz hat sich zum Ziel gesetzt, durch klimaneutrale Energieversorgung und Sanierung bestehender Gebäude den CO2-Ausstoß pro Person bis 2050 um 75 Prozent zu reduzieren. Der Oberbürgermeister muss der Öffentlichkeit halbjährlich über den Stand des Klimaschutzes in der Stadt berichten. Ähnliches gilt für alle Unternehmen, an denen die Stadt beteiligt ist, wie der Energieversorger oder der öffentliche Nahverkehr. „Wir wollen im Nachtragshaushalt einen eigenen Haushalt für den Klimaschutz anfügen", sagte Uli Burchardt, CDU-Politiker und Oberbürgermeister von Konstanz, im Mai gegenüber dem Tagesspiegel. Er selbst habe bereits die Bestellung seines neuen Dienstwagens storniert. Es soll Bürgerberatungen zur klimaneutralen Energieversorgung mit einem möglichst hohen Anteil lokaler regenerativer Energien geben und eventuell neue Fördermöglichkeiten für Solaranlagen. Die Stadt will den motorisierten Individualverkehr in der Stadt verringern sowie ein Energiemanagement für die städtischen Gebäude einrichten. Die Verwaltung der Stadt Konstanz soll für letzteres bis zum Herbst ein Anreizprogramm zur Gebäudesanierung erarbeiten. Auch das Konstanzer Stadtfest soll reformiert werden: Kleiner, umweltschonender, klimafreundlicher, so wünscht es sich der Oberbürgermeister. Alles andere würde einfach nicht mehr nach Konstanz passen, so der Oberbürgermeister gegenüber dem SWR.
Für die Konstanzer „Fridays for Future“-Aktivisten sind all diese Maßnahmen bereits ein großer Schritt in die richtige Richtung: „Der Klimanotstand ist ein Notsignal, das klar aussagt: Wir müssen grundlegend etwas ändern. Das Fortbestehen unserer Zivilisation ist in Gefahr”, erklärt der Fridays for Future-Aktivist Manuel Oestringer, und seine Mitstreiterin Noemi Mundhaas ergänzt: „Wir werden alles daran setzen, dass der Klimanotstand in realer Politik mündet. Nach dem heutigen Tag muss ein ,Ruck' durch unsere Gesellschaft gehen, alle müssen gemeinsam anpacken! Unsere Zeit wird knapp”. Seitdem Konstanz Anfang Mai diesen Schritt gegangen ist, haben 28 Städte in Deutschland den „Klimanotstand“ ausgerufen, darunter Heidelberg, Bochum, Erlangen, Aachen, und, als erste Landeshauptstadt, Kiel.
Die Städte reagieren damit auf den Druck von der Straße, vor allem auf die Proteste der jungen Aktivisten von „Fridays for Future“. Und die finden immer mehr Nachahmer wie die Gruppen „Scientists for Future”, „Parents for Future“, „Farmers for Future“ zeigen. Klimaschutz gilt nun nicht nur bei Demonstranten, sondern auch parteiübergreifend in Berlin als en vogue, selbst der bayerische Ministerpräsident Söder lies in einem Interview im Juni verlauten, er wünsche sich einen früheren Kohleausstieg als die Bundesregierung (2030 statt 2038) und die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer schrieb in einem Gastbeitrag in der ZEIT: „Wir können so nicht mehr weiterleben.“
Doch was folgt aus all diesen Erklärungen und Bekundungen? Der Klimanotstand, deren Inhalt jede Gemeinde, jede Stadt und jedes Parlament selbst definiert, steht und fällt mit der Finanzierung der meist teuren Maßnahmen. Darauf weißt Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages hin: Wenn eine Stadt den Klimanotstand erkläre, sei das erst einmal nicht mehr als ein politischer Appell, sagte Dedy Anfang Juli im Interview mit dem WDR. Es gebe in den Städten schon seit Jahrzehnten Klimaschutzmaßnahmen wie Grünflächen- und Radwegeplanungen oder Potentialanalysen – die würden aber von den Bürgern oft nicht wahrgenommen. „Offensichtlich haben wir ein Vermittlungsproblem“, sagte Dedy. Ob man die Maßnahmen nun Klimanotstand oder Klimaschutzplan nenne, sei Dedy zufolge nicht maßgeblich.
Auch Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, glaubt, dass mit dem Notstand alleine noch nicht viel getan ist. Er weist darauf hin, dass die Kommunen mehr Unterstützung beim Klimaschutz brauchten – vom Bund. Notwendig sei ein deutschlandweiter „Masterplan Klimaschutz“, der die Kommunen nachhaltig unterstütze und fördere, so Landsberg gegenüber der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft. „Viele Kommunen haben ihre Möglichkeiten erkannt und kommunale Klimaschutzpläne erstellt“, sagte Landsberg. Die können aber nur gelingen, „wenn sich Bund, Länder, Kommunen und Bürger beteiligen“. Eine Verkehrswende – mit mehr öffentlichem Personennahverkehr und weniger Individualverkehr – könne man nur auf den Weg bringen, „wenn Bund und Länder die Mittel deutlich aufstocken, die gesetzgeberischen Vorgaben für neue Trassen deutlich erleichtert werden und auch die Deutsche Bahn ihr Netz in der Fläche massiv ausbaut", so Landsberg.
Wäre Klimaschutz günstig und leicht zu haben – wir hätten ihn womöglich schon. Doch an der Frage der Kosten, egal ob für die Energie- Verkehr- oder Agrarwende, scheiden sich die Geister. Erklärungen wie der Klimanotstand lösen dieses Problem nicht – aber sie machen es öffentlich. Das Label „Klimanotstand" hat das Potential, das gesellschaftspolitische Klima in den Städten zu verändern. Und das ist zumindest ein erster Schritt.