Liebe Leserinnen und Leser,
na, ordentlich gefeiert gestern? Wie sich das für Senioren gehört, verliefen die Festivitäten zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes eher moderat. Wer noch nicht genug hat und sich in Berlin oder Bonn befindet, kann noch das ganze Wochenende weitermachen. Nachwirkungen in Gestalt von Katersymptomen mit Brummschädel und Ähnlichem sollten sich in Grenzen halten.
Katerstimmung ist ja nie schön, und wir sollten alles tun, um diese auch am Montag, dem 10. Juni zu vermeiden: am Tag nach der Europawahl. Für ebendiese wird seit geraumer Zeit ein kräftiger Rechtsruck prophezeit. Jetzt bitte nicht achselzuckend abwenden und murmeln: „Da kann ich ja doch nichts dran ändern.“ Doch, können Sie. Zusammen mit all den anderen, die ebenfalls demokratische Parteien wählen.
Also solche, die mit Nationalismus, Faschismus und Populismus jeder Couleur nichts am Hut haben. Wie diese deutsche Rechtsaußenpartei, die gerade den neuen Sport „such die Spitzenkandidaten“ kreiert hat und mit der nicht mal mehr die rechte ID-Fraktion im EU-Parlament noch was zu tun haben will, weil sie ihr zu rechts ist – das muss man auch erst mal hinkriegen.
Die deutsche Ernährungsindustrie hat es jetzt ebenfalls satt. Sie ruft mit einer Kampagne unter dem Motto #LieberZuEndeDenken über zahlreiche Kanäle (Zeitungen, Zeitschriften, Internet, soziale Medien und Veranstaltungen) erstens zum Wählen auf und warnt zweitens vor (Rechts-)Extremisten.
Nicht nur die Lebensmittelbranche, sondern auch andere Konzerne (darunter die Deutsche Bahn, Siemens und Mercedes) reden ihren Beschäftigten und allen anderen ins Gewissen, ihre Stimme nicht den Populisten zu geben. Warum? Ganz einfach: Die seien ein Risiko für die Demokratie – und für den Wirtschaftsstandort Deutschland. So sehen das fast 80 Prozent der Unternehmen des Landes.
Jetzt kratzt sich vielleicht die eine oder der andere am Kopf und denkt: Schön und gut, aber was tut die EU denn für mich? Nun ja, zum Beispiel, ganz banal, für Trinkwasserspender, bessere Autoreifen und gute Pommes Frites sorgen und einiges mehr. Natürlich will sich auch das EU-Parlament selbst nicht lumpen lassen und tritt mit einer neuen Website auf, wo man individuell überprüfen kann, was Europa in der jeweiligen Region oder im eigenen Leben Gutes tut. Betonung auf Gutes, denn Probleme werden da nicht gewälzt. Ist ja schließlich auch Wahlwerbung.
Wem das immer noch zu abstrakt ist oder wer es noch genauer wissen will: der gute alte Wahl-O-Mat gibt Auskunft, mit welcher Partei man am ehesten übereinstimmt. Beim Kandidierenden-Check von abgeordnetenwatch.de haben Sie Gelegenheit, Vertreterinnen und Vertretern aller Parteien Fragen zu stellen.
Sehr empfehlenswert zur Vorbereitung ist auch die arte-Doku „Der Kompromiss – In den Korridoren der Macht“. Lara Wolters (Sozialdemokraten, Niederlande), Manon Aubry (Die Linke, Frankreich) und Heidi Hautala (Grüne, Finnland) verhandeln federführend über die erste europäische Richtlinie zur Einführung einer Sorgfaltspflicht für Unternehmen, auch Lieferkettengesetz genannt. Ein Blick in den Maschinenraum des EU-Parlaments.
Fridays for Future ruft für den 31. Mai zum Klimastreik auf, und zwar ausdrücklich mit Verweis auf die Europawahl. Klimaschutz gehört zu den Themen, die im Fall einer Mehrheit von Rechten und Konservativen unter die Räder zu kommen drohen. Also auf zur Demo, ein bisschen Bewegung kann nie schaden.
Zu guter Letzt: Das EU-Parlament ist ebenso wenig perfekt wie jedes andere Parlament der Welt. Dem Satiriker Nico Semsrott reicht es, er streicht nach fünf Jahren als EU-Abgeordneter die Segel. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Brüssel sehen und sterben. Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe“.
Trotz allem sagt er: „Wie soll es sonst gehen? Es gibt keinen anderen Weg. Das ist die friedlichste Art, Konflikte zu lösen. Ich habe riesigen Respekt vor dieser großen Kompromissmaschine. Das ist nun mal Demokratie: Wenn am Ende niemand zufrieden ist, weil keiner das bekommt, was er wollte. Das ist lustig, aber auch traurig. Aber so muss es sein. Alles andere bedeutet explizite Gewalt. Und da bin ich total dagegen.“
So. Jetzt Sie. Informieren, demonstrieren, mobilisieren (und wenn es durch das Weiterverbreiten dieser Zeilen ist). Und am 9. Juni, oder schon vorher per Briefwahl: abstimmen. Wir sehen uns spätestens an der Wahlurne.
Kerstin Eitner
Redakteurin
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