In den letzten Tagen türmen sich an der Ostseeküste die Zigarettenstummel in ungewohnter Weise. Zu Haufen zusammengefegt, eimerweise aufgereiht oder bis zum Rand in Einmachgläser gefüllt, werden sie Bild für Bild hochgeladen auf die Plattform Instagram. Gemacht wurden die Müllfotos von Menschen in und um Kiel. Anlässlich der Aktionswoche Wasserschutz hatte der Verein Zero Waste Kiel zum gemeinsamen Aufräumen aufgerufen. Unter dem Hashtag #CleanupSH kann man nun die Funde bewundern.
Zu viel Müll ist kein exklusives Problem von Kiel. Aber die Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins sagt Abfällen nun systematisch den Kampf an – und das geht weit über Aufräumaktionen und Zigaretten hinaus. Als erste Stadt Deutschlands wird Kiel „Zero Waste City“. Die Kommune ist dem Netzwerk Zero Waste Europe beigetreten, in dem sich europaweit schon mehr als 400 Städte zusammengeschlossen haben. Nun befindet sich Kiel im Zertifizierungsverfahren, erst wenn das abgeschlossen ist, darf die Stadt sich offiziell Zero Waste City nennen. Bald schon könnten ihr München und Frankfurt folgen, auch die beiden Städte arbeiten derzeit Konzepte zur Müllreduktion aus.
„Zero Waste“, null Abfall, ist allerdings eher ein Slogan als ein tatsächliches Ziel. Vorerst will Kiel bis 2035 den Restmüll halbieren und langfristig auf fünfzig Kilogramm pro Kopf und Jahr senken. Dennoch ist der Plan ambitioniert. Denn pro Kopf lag die Restmüllmenge im Vergleichsjahr 2017 noch bei rund 170 Kilogramm, bundesweit liegt der Durchschnitt bei knapp 160 Kilogramm. Die Gesamtabfallmenge Kiels soll bis 2035 um 15 Prozent sinken. Dazu zählt neben dem Restmüll noch eine ganze Menge mehr: darunter Sperrmüll, Wertstoffe wie Glas und Papier, Bioabfall, Bauschutt, Klärschlamm oder Straßenkehricht.
Verantwortlich für Kiels Müllstrategie ist der Verein „Zero Waste Kiel“, der dieser Tage zum Kippen sammeln aufrief. „Der Verein schlug der Landeshauptstadt Kiel 2018 vor Zero Waste City zu werden, die Idee ist von Beginn an auf breite Zustimmung gestoßen. Das spiegelt sich auch in dem einstimmigen Ratsbeschluss nach Fertigstellung des Zero-Waste-Konzepts wider“, sagt Tatjana Allers, die im Kieler Umweltschutzamt die Projektleitung des Vorhabens übernommen hat. Die Idee fiel in Kiel gewissermaßen auf fruchtbaren Boden, denn die Küstenstadt ist schon lange um Nachhaltigkeit bemüht. Seit 1996 nennt sie sich „Klimaschutzstadt“ und strebt als solche die Klimaneutralität vor 2050 an – eine konkrete Jahreszahl nennt sie allerdings nicht. Sie gehört zu den Agenda-2030-Kommunen, die sich den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen verschrieben haben. Als erste Landeshauptstadt rief sie 2019 außerdem den Klimanotstand aus. Unter anderem dafür wurde Kiel mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2021 ausgezeichnet.
Die meisten Zero-Waste-Maßnahmen sind allerdings noch Zukunftsmusik, noch steht Kiel hier ganz am Anfang. Einen Plan immerhin gibt es schon. Ein Jahr lang haben Forschende des Wuppertal Instituts im Auftrag der Stadt ein Zero-Waste-Konzept erarbeitet. Und weil das Gelingen von der Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger abhängen wird, banden sie diese gleich mit ein. In fünf Workshops durfte mitmachen, wer wollte. „Es waren fast alle Altersklassen dabei“, erzählt Tatjana Allers. „Wir hatten sogar eine über 80-Jährige dabei, das hat uns besonders gefreut.“
Die insgesamt rund 450 Teilnehmenden entwickelten gut 600 Ideen zur Müllreduktion. Am Ende standen mehr als hundert Maßnahmen und zwanzig Ziele. So soll es bis 2035 zehn Zero-Waste-Schulen geben, die das Thema nicht nur in den Lehrplan aufnehmen, sondern auch praktisch umsetzen könnten, etwa mit abfallfreien Mensen, konsequenter Mülltrennung oder einem Verkaufsverbot von Einwegartikeln vor Ort. Auch die Stadtverwaltung hat sich große Ziele gesetzt: So will sie bis 2035 ihren Abfall halbieren und damit Vorbild für andere Städte werden. Alle Events – wie etwa die jährlich stattfindende Segelregatta Kieler Woche – sollen bis 2030 auf Mehrweggeschirr umgestellt und eventuell zu Foodsharing-Angeboten verpflichtet werden.
„Schwieriger wird es beim Gewerbe und im Einzelhandel“, sagt Tatjana Allers. „Denn in diesem Bereich sind schnell die kommunalen Handlungsgrenzen erreicht. Hier wollen wir über freiwillige Selbstverpflichtungen zur Müllreduktion motivieren.“ Wie die Privatwirtschaft mitzieht, muss sich zeigen. Erste Erfolge gibt es schon: So haben sich mehr als hundert Cafés und Bäckereien zu einem gemeinsamen Pfandsystem für Heißgetränke zusammengeschlossen, berichtet Allers. „Das heißt: Man kann den Kaffee in einem Café kaufen und den Becher in einem anderen Restaurant zurückgeben.“ Den Einzelhandel zum Verpackungsverzicht zu bewegen, wird keine leichte Aufgabe: Gerade erst gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass der Verpackungsmüll 2019 im Vergleich zum Vorjahr um vier Kilogramm pro Kopf gestiegen ist: auf 72 Kilogramm.
Um diese Zahl zu senken holt sich Kiel auch Inspiration aus anderen Regionen. So wolle man die Einführung einer kommunalen Steuer auf Einweggeschirr prüfen, wie Tübingen sie beschlossen hat. Künftig sollen dort fünfzig Cent für Einwegbecher und -teller und zwanzig Cent für Besteck-Sets fällig werden – egal aus welchem Material sie sind. Eine andere Inspiration kommt aus Österreich: Dort ermöglicht die Zero-Waste-Austria-Card Rabatte bei nachhaltigen Unternehmen, die etwa Verpackungen oder den Einsatz von Ressourcen reduzieren, Materialien wiederverwenden oder Upcycling betreiben – also Stoffe zu hochwertigeren Produkten weiterverarbeiten.
Mit vielen kleinen und großen Schritten arbeitet Kiel auf das Ziel hin, den Anteil der getrennt gesammelten Wertstoffe zu erhöhen: von weniger als vierzig Prozent im Jahr 2017 auf achtzig Prozent 2050. Die Recyclingquote soll so von 48 Prozent auf 65 Prozent im Jahr 2035 gesteigert werden. Damit will die Stadt die Müllverbrennung und Entsorgung auf Deponien drastisch reduzieren. Das würde auch die CO2-Emissionen senken: Verläuft alles nach Plan, will Kiel im Jahr 2050 auf diese Weise 13.500 Tonnen CO2 einsparen. Das entspricht den jährlichen Pro-Kopf-Emissionen von knapp 1300 Menschen in Deutschland.
„Das ganze Konzept wird nur erfolgreich sein, wenn jeder einzelne zu Hause Abfall vermeidet“, sagt Tatjana Allers. Alle Kielerinnen und Kieler sollten nun überlegen, wo sie „mit Spaß Abfälle reduzieren“ könnten, schreibt die Stadt auf einer Informationsseite im Internet. Weil Spaß allein als Motivation aber wohl nicht ausreichen wird, prüft die Stadt auch die Einführung des „Pay as you throw“-Verfahrens, bei dem die Entsorgungskosten für den gesamten Haushaltsabfall anhand der Menge berechnet werden. Je weniger man wegwirft, desto weniger zahlt man auch. Die Umweltagentur der USA, wo dieses System schon angewandt wird, nennt das „simpel und fair".
Ob Gleichberechtigung, Jugendbeteiligung oder die kleine Stromrevolution: Mit vielen Ideen gestalten Kommunen die Zukunft des Landes. Für unsere aktuelle Ausgabe haben wir uns auf die Reise gemacht, hier sind wir an einigen Stationen ausgestiegen und haben uns das Ganze mal genauer angesehen