Kann Atomkraft ein Mittel im Kampf gegen die Klimakrise sein? Diese Frage wird seit Jahren heiß diskutiert. Prominentester Befürworter ist Bill Gates, der in seinem aktuellen Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ für die Nutzung der Kernenergie argumentiert. Und auch die Wirtschaftskommission für Europa bei den Vereinten Nationen (UNECE) sieht Atomkraft als Teil der Lösung, sie schreibt in einer kürzlich veröffentlichten Analyse: „Kernkraftwerke produzieren sowohl kohlenstoffarmen Strom als auch Wärme, was Möglichkeiten für die Dekarbonisierung schwer abbaubarer Sektoren über den Stromsektor hinaus eröffnet.“
Argumente dagegen gibt es viele, so führen etwa die „Scientists for Future“ in einer im Oktober veröffentlichten Studie auf, „dass ein solcher Pfad mit erheblichen technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Risiken verbunden ist.“ Selbst bestehende Kraftwerke weiter laufen zu lassen werde zunehmend unwirtschaftlich, neue zu bauen sei es erst recht, zudem dauere das viel zu lange. Hinzu kämen die Kosten für den Rückbau, die immer noch ungeklärte Lagerung des Mülls und die Tatsache, dass die Unfallrisiken der Kraftwerke nicht nur hoch, sondern auch unversicherbar sind. Schon der Uranabbau ist problematisch: Alleine für die deutschen Kraftwerke entstehen dabei pro Jahr mehrere hunderttausend Tonnen feste und mehr als eine Million Liter flüssige Abfälle.
Deutschland hat sich nach dem Reaktorunglück von Fukushima für den Atom-Ausstieg entschieden, der mit dem kommenden Jahr Realität wird. Aktuell sind hierzulande noch sechs Reaktoren am Netz, die 2022 endgültig abgeschaltet werden. Mit dieser Entscheidung steht Deutschland aber ziemlich allein da, vor allem im Vergleich mit Frankreich. Das Land betreibt nach den USA die meisten Atomkraftwerke weltweit, sie liefern dort siebzig Prozent des Stroms. Für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist Nuklearenergie auch künftig die Antwort auf zu hohe CO2-Emissionen: „Um die Energieversorgung Frankreichs zu sichern und die Klimaziele für 2050 zu erreichen, werden wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten den Bau von Atomkraftwerken auf den Weg bringen“, sagte er in einer Fernsehansprache.
Und so hat Macron in Brüssel lautstark Werbung für Atomenergie gemacht, und das anscheinend mit Erfolg. Denn Die EU-Kommission kündigte an, die Energieträger Atom und Gas als nachhaltig einstufen zu wollen. Lange stand sie dem kritisch gegenüber, so auch die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auf dem letzten EU-Gipfel änderte sie dann aber überraschend ihre Meinung – ein letzter Gefallen für ihre französischen Freunde? Er zeigte jedenfalls Wirkung: In den kommenden Tagen wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Vorschlag für eine EU-Taxonomie veröffentlichen, darin legt sie fest, was künftig als grüne Investition gilt und entsprechend finanziell und politisch gefördert wird. Dass erneuerbare Energien auf dieser Liste stehen, ist unstrittig. Werden aber auch Atom- und Gaskraft aufgenommen, wonach es nun aussieht, wäre das in den Augen vieler Expertinnen und Experten problematisch.
„Dann ist das ein Greenwashing von schädlichen Energieformen“, sagt Heinz Smital, Atom-Experte bei Greenpeace, „und echten nachhaltigen Lösungen würden große Finanzmittel entzogen.“ Die Ironie: Gerade Greenwashing soll die Taxonomie verhindern. Indem sie offiziell festlegt, was nachhaltig ist, können Firmen und Investmentfonds sich nicht einfach einen grünen Anstrich geben. „Eine gemeinsame Sprache und eine klare Definition des Begriffs ‚nachhaltig‘ sind erforderlich“, schreibt die Kommission. Das soll grüne Finanzprodukte vertrauenswürdiger machen und zu mehr Investitionen in klimafreundliche Aktivitäten führen. Mit Blick auf die nun drohende Aufnahme von Atom und Gas sagt Heinz Smital: „Ein einst gutes EU-Instrument zur Entwicklung nachhaltiger Wirtschaft wäre damit korrumpiert.“
Die Taxonomie wird in drei Gruppen unterteilt: in klassisch nachhaltiges Handeln wie das Betreiben von Windparks, in unterstützende Wirtschaftszweige wie etwa das Herstellen von Solarpaneelen, und in Übergangslösungen, die auf dem Weg zu einer emissionsfreien Infrastruktur benötigt werden. In die letzte Kategorie sollen Atom- und Gaskraftwerke fallen. In diese könnte also nur für eine gewisse Zeit investiert werden und auch nur in die modernsten Anlagen. Öko-Fonds müssten klar erkennbar machen, in welche der drei Untergruppen die Investitionen fließen.
Greenpeace und 128 weitere Umweltorganisationen forderten den künftigen Bundeskanzler Olaf Scholz in einem offenen Brief auf, „das deutsche Veto gegen die Kennzeichnung der Kernenergie als nachhaltige Energieform schnell und entschieden zu bestätigen und deutlich zu machen, dass der Versuch der Kommission, diese Diskussion in der sensiblen Zeit der Regierungsbildung in Deutschland zu beeinflussen, nicht akzeptabel ist.“ Deutschland wandte sich zwar gemeinsam mit sieben weiteren Ländern in einer Erklärung an die EU-Kommission, in der es heißt: „Die Kommission muss Gas und Atom aus der Grünen Taxonomie ausschließen, um deren Glaubwürdigkeit zu gewährleisten und Investitionen in wirklich nachhaltige Energieträger zu lenken.“ Aber bei 27 EU-Mitgliedsstaaten sind sie mit dieser Forderung in der Minderheit.
„Die Gefahren der Atomenergie werden weiterhin systematisch unterschätzt“, sagt Heinz Smital. In einem Gutachten zur Atomenergie der Gemeinsamen Forschungsstelle der EU-Kommission heißt es: „Die Analysen ergaben keine wissenschaftlich fundierten Beweise dafür, dass die Kernenergie der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt mehr schadet als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie als Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels aufgeführt sind.“ Dem widersprechen aber unter anderem die „Scientists for Future“ in ihrer Studie: „In Kernkraftwerken sind jederzeit katastrophale Unfälle mit großen Freisetzungen radioaktiver Schadstoffe möglich. Dies zeigen nicht nur die Großunfälle, z. B. die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, sondern auch eine Vielzahl von Unfällen, die sich seit 1945 in jedem Jahrzehnt und in jeder Region, die Kernenergie nutzt, ereignet haben“, schreiben sie.
Ausgerechnet in Frankreich zeigen sich gerade die Risiken von Atomreaktoren. Dort packte kürzlich ein Whistleblower über vertuschte Zwischenfälle im Kernkraftwerk Tricastin aus. Der von der Zeitung Le Monde „Hugo“ genannte Mann berichtet von einer geheim gehaltenen Überschwemmung eines Raumes und anderen nicht gemeldeten Unfällen. „Hugo“ reichte nun anonym Klage gegen den Betreiber EDF ein, unter anderem wegen „Gefährdung des Lebens anderer“.
Heinz Smital sieht Frankreichs Atomstrom-Kurs mit Sorge: „Frankreichs geplanter Druckwasserreaktor Flamanville – einst gehypt als ‚Rolls Royce du nucléaire‘ – ist bisher nur ein Milliardengrab. Baubeginn: vor 15 Jahren, Preis: fast versechsfacht, Fertigstellung: ungewiss“, so der Atomexperte. Darum würden alte Reaktoren, die ursprünglich für vierzig Jahre ausgelegt wurden, aus einer Zwangslage heraus immer weiter betrieben – koste es, was es wolle. „Hier gibt es viele kritische Situationen, die auch zu einem Supergau in Europa führen können“, warnt Heinz Smital. Und über welche Gefahr noch gar nicht gesprochen wurde: die Möglichkeit, Atomwaffen zu bauen. „Siamesische Zwillinge“ nennt die Bundeszentrale für politische Bildung die zivile und militärische Nutzung von Atomkraft und schreibt: „Letztlich könnte wohl nur ein weltweiter Verzicht auf sowohl die militärische als auch die zivile Nutzung der Kerntechnik – eine doppelte Null-Lösung – weitestgehend Sicherheit vor einer Weiterverbreitung nuklearer Waffen garantieren.“