Alexandra Korolewa ist seit 1993 Co-Chefin von „Ecodefense“, einem der ältesten Umweltverbände Russlands. Russische Nichtregierungsorganisationen müssen zunehmend staatliche Repressalien hinnehmen. Um einer mehrjährigen Haft zu entgehen, floh Korolewa 2019 von Kaliningrad nach Deutschland und bekam in Dresden politisches Asyl. Von dort aus leitet die 66-Jährige die Geschicke von Ecodefense weiter.

Frau Korolewa, wie geht es Ihnen im Dresdner Exil?

Dresden war für mich wie ein Lottogewinn. Ich fühle mich zu Hause, die Stadt ähnelt meiner Heimat Kaliningrad. Seit ich im Juni 2019 Russland verlassen habe, haben mir viele Menschen geholfen. Zuerst alte Freunde von deutschen Nichtregierungsorganisationen, dann neue Freunde in Dresden. Und natürlich lerne ich fleißig Deutsch. Im Gepäck hatte ich nur ein paar Dutzend Wörter, aufgeschnappt aus alten Kriegsfilmen.

Wie begann Ihr persönliches Engagement für die Umwelt?

Meine Mutter Galina Kucheneva brachte mir Naturschutz schon als Kind nahe. Sie lehrte als Professorin an der Uni Botanik und setzte vieles in Kaliningrad durch: eine regionale Rote Liste bedrohter Pflanzenarten, den Schutz alter Bäume und Naturdenkmäler, einen Nationalpark auf der Kurischen Nehrung. Sie löschte noch im hohen Alter Waldbrände mit ihren eigenen Händen. Mama war eine großartige Lehrerin. Sie moderierte Fernseh- und Radiosendungen über die Natur, schrieb Artikel und Bücher, arbeitete mit Teenagern in Umweltcamps. Außerdem führte sie in Kaliningrad das erste Klimabildungsprogramm für russische Schulkinder durch – und das schon Anfang der Neunzigerjahre! Hunderte von Schulkindern begannen, zusammen mit ihren Eltern begeistert den „Frühlingsfortschritt“ zu verfolgen.

Und wie kamen Sie zu Ecodefense?

Zu der Zeit arbeitete ich im neu geschaffenen Ministerium für natürliche Ressourcen, in der Kaliningrader Abteilung für Umweltbildung. Ich liebte meinen Job: Ich sprach mit Journalisten und leitete die Radiosendung „Stunde der Erde“. Eines Tages erkundigte sich der damalige Leiter von Ecodefense bei uns nach dem Abwasser, das eine Papierfabrik in den Pregel leitete. Viele setzten sich damals für den Schutz des Flusses ein. Ecodefense vereinte diese Proteste und erreichte einen Beschluss des Kaliningrader Stadtrates, den Betrieb der Fabrik zumindest im Sommer einzustellen – wegen des stinkenden Abwassers. Später forderte unser Ministerium einen Umbau der Fabrik gemäß strenger Umweltschutzauflagen. Doch die russischen Strukturen verwandelten die PR-Abteilung des Ministeriums rasch in eine „Abteilung zur Verschleierung ökologischer Tatsachen“. Also wechselte ich 1993 zu Ecodefense. Seitdem opfere ich meine Freizeit – doch ich wusste, dass ich die Freiheit errungen hatte, das zu tun, was ich für richtig und notwendig halte.

Warum engagieren sich besonders Frauen so häufig?

Vielleicht wegen ihrer Sensibilität oder ihres Verantwortungsgefühls? Vielleicht, weil es in einer patriarchalischen Gesellschaft Frauen sind, die die zum Leben notwendigen Ressourcen verwalten? Wie dem auch sei, Frauen stellen ein enormes Potenzial und eine enorme Stärke dar, um das zunehmende Risiko von Katastrophen durch die Klimakrise zu bewältigen. Auch auf der Kurischen Nehrung waren es die einheimischen Frauen, die Wälder auf Wanderdünen pflanzten und einen Schutzwall an der Küste errichteten.

© Ecodefense/Alexandra Korolewa<p>Aktivistinnen und Aktivisten von Ecodefense bei einer Anti-Atom-Protestaktion auf dem Roten Platz in Moskau, 2002</p>
© Ecodefense/Alexandra Korolewa

Aktivistinnen und Aktivisten von Ecodefense bei einer Anti-Atom-Protestaktion auf dem Roten Platz in Moskau, 2002

Was war bislang Ihr größter Erfolg?

Bekannt wurden wir vor allem durch unsere kreativen Proteste: Wir trugen einen grünen Sarg vor das Rathaus von Kaliningrad, krochen in weißen Overalls über den Roten Platz in Moskau. Aber am wichtigsten ist mir, dass wir 2014 das Atomkraftwerk in Kaliningrad verhindert haben. Unsere stärkste Waffe war und ist bis heute die schnelle Verbreitung von Informationen. Erst durch uns erfuhren die Anwohner vom Bauvorhaben. Schließlich trugen wir ein riesiges brennendes Modell eines Atomkraftwerks quer durch Kaliningrad. Damals war es noch möglich, so eine Aktion in der Innenstadt zu organisieren und nicht hinter Gittern zu landen.

Sie sind seit bald 30 Jahren aktiv. Wie hat sich die Protestkultur in Russland über die Jahre verändert?

Wenn wir zurückblicken, können wir selbst kaum glauben, was wir alles gewagt haben. Nicht, weil wir älter geworden sind, sondern weil sich die Situation in Russland fundamental verändert hat – heute kann es mit deinem Aktivismus vorbei sein, sobald du das Haus verlässt. Es war schon früher nicht leicht, doch es gab mehr Mittel und Wege: Informationen zu sammeln und zu verbreiten, Lobbyismus, Gerichtsverfahren, Gesetzesinitiativen, mehr demokratische Mitbestimmung, Appelle an die Bevölkerung, Kooperationen, auch mit ausländischen Organisationen, und schließlich Protestaktionen. Jetzt sind die meisten dieser Aktivitäten einfach verboten, und bei Verstößen droht Gefängnis.

Wie ist es heute, Aktivistin in Russland zu sein?

Heute gibt es für russische Aktivisten nur noch eine legale Art, zu protestieren – eine Mahnwache mit Plakat. Und selbst dafür drohen Festnahmen und Haft. Gründe dafür finden sich schnell, zuletzt schob die Polizei die Pandemie vor. Seit ab 2012 das „Ausländische-Agenten-Gesetz“ in Kraft ist, werden russische Organisationen praktisch als Spione bezeichnet. Einige nehmen seitdem keine Gelder aus dem Ausland mehr an und können kaum überleben. Andere haben ihre Ausrichtung geändert, um unpolitischer zu wirken – eine Zwickmühle, da so gut wie alles als politisch angesehen werden kann. Viele haben einfach aufgegeben. Wir haben uns entschieden, das Gesetz zu ignorieren, weil wir nicht als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt werden wollen. Denn wir sind russische Bürger, Ecodefense ist eine registrierte russische Organisation, wir wirken auf russischem Boden und verteidigen die Rechte der Russen.

Mithilfe des „Agentengesetzes“ beschuldigt der russische Staat auch Ihre Organisation der Spionage, weil Ecodefense international vernetzt und zum Teil durch Spenden aus dem Ausland finanziert ist. Was steckt dahinter?

Da wir oft internationale Hilfe brauchen, um erfolgreich zu sein, wollen die Behörden unsere Kontakte kappen. Auf lokaler oder auf Landesebene hätten wir zum Beispiel den Bau des Kernkraftwerks in Kaliningrad niemals verhindert. Die russische Atomlobby ist zu stark. Doch der Staatskonzern Rosatom brauchte ausländische Partner, um den Bau zu finanzieren. Sobald er also die Verhandlungen mit potenziellen Geldgebern aufnahm, kreuzten wir mit unseren ausländischen Freunden auf. In Deutschland, Italien und Frankreich organisierten unsere Partner aus der Anti-Atom-Bewegung Proteste. Unsere Kampagne ist auch jetzt noch aktuell, da in Russland Nuklearenergie als sauber und CO2-frei gilt – dank der Atomlobby.

Warum sahen Sie sich gezwungen, aus Ihrer Heimat zu fliehen?

Da wir das Agentengesetz nicht befolgt hatten, wurden wir mehrmals im Jahr mit hohen Bußgeldern belegt. Die verhängten Geldbußen des Staates gegen Ecodefense haben 1,2 Millionen Rubel (Anm. d. Red.: rund 14.000 Euro) erreicht, das Bankkonto der Organisation ist gesperrt. 2019 wurden gegen mich als Leiterin fünf Gerichtsverfahren eröffnet. Da wir uns weigern, die Strafgelder zu zahlen, drohen mir bis zu zwei Jahre Haft. Ich sah keinen anderen Ausweg, als Russland zu verlassen und in Deutschland um politisches Asyl zu bitten.

Traut sich überhaupt noch jemand, zu protestieren?

Lokale Proteste nehmen sogar zu. Im vergangenen Jahr stoppten Aktivisten in Shies in der Region Archangelsk nach zweijährigem Protest den Bau einer Mülldeponie. Und im Juni 2020 campten Bewohner des Dorfes Cheremsa im Steinkohlerevier Kuzbass vor schwerem Gerät und protestierten gemeinsam mit Ecodefense gegen den Bau einer Kohleverladestation. Trotz Druck von Polizei und Kohlekonzernen, Drohungen, Inhaftierung und Strafverfolgung blieben sie standfest, bis der Gouverneur zwei Monate später den Bau abblies.

© Ecodefense/Alexandra Korolewa<p>Alexandra Korolewa beim Klimastreik mit Fridays for Future in Dresden, 2019</p>
© Ecodefense/Alexandra Korolewa

Alexandra Korolewa beim Klimastreik mit Fridays for Future in Dresden, 2019

Wie klappt jetzt die Arbeit für Ecodefense?

Dank Internet ganz gut. Derzeit leite ich zwei Klimaprojekte in Kaliningrad und bin generell für die Aktivitäten von Ecodefense in Kaliningrad verantwortlich. Inzwischen hoffe ich vorsichtig auf Rückkehr, das Gericht in Kaliningrad gab einer Berufung meiner Verteidigung statt.

Was würden Sie Menschen raten, die ebenfalls aktiv werden wollen?

Man braucht eine gute Vorstellungskraft, um Mut zu fassen. Es stimmt nicht, dass man sich kleine Ziele setzen muss, um ein großes Ziel zu erreichen. Nein, du musst entschlossen und furchtlos das verfolgen, was andere für unmöglich halten. Wie heißt es doch in „Alice im Wunderland“: Manchmal denke ich bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge!

An welchen unmöglichen Dingen arbeitet denn Ecodefense gerade?

Ganz allgemein an der Entwicklung der Demokratie. Wir beobachten, dass Umweltprobleme in Russland heute ein Motor für zivile Selbstorganisation sind. Die Menschen erkennen diese Probleme, verstehen die davon ausgehenden Bedrohungen und wollen Veränderungen. Also unterstützen wir Aktivisten gegen Kohle, besonders in Kusbass und Chakass. Außerdem klären wir über die Probleme der Atomenergie auf. Und wir dokumentieren die Folgen der Klimakrise auf der Kurischen Nehrung. All diese Bereiche umfassen Aktivitäten auf internationaler Ebene mit einem umfangreichen Partnernetzwerk.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Oft möchte ich keine Nachrichten aus Russland lesen, sie machen mich traurig – und wütend über diese alten Beamten, die mein Land rückwärts schleppen. Hoffnung machen mir meine Freunde, mutige Frauen und Männer, junge und nicht mehr so ​​junge Aktivisten und Bürger. All jene, für die Freiheit und der Wert des Lebens das Kostbarste auf der Welt sind, die trotz allem weitermachen: trotz Ängsten, trotz Repressionen, trotz neuer Gesetze, die die Freiheit einschränken, trotz verrückter Pläne zum Ausbau der Atomenergie und der Kohlenutzung. Und dann spreche ich den berühmten Trinkspruch russischer Dissidenten aus: „Auf den Erfolg unseres aussichtslosen Geschäfts!“

Alexandra Korolewa porträtieren wir auch als „Widerständige“ in unserem Anfang Oktober erscheinenden Heft 6.21 „Yes She Can“. In diesem Schwerpunkt dreht sich alles um inspirierende Frauen weltweit, die sich gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und für gerechtere Gesellschaften einsetzen. Darin können Sie lesen, wie viele an die Schalthebel der Macht drängen, um es anders zu machen und den Wandel voranzutreiben – als Anwältinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Aktivistinnen.

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