Liebe Leserinnen und Leser,

Ich habe gestern viel an die Zukunft meiner Kinder gedacht. Erst kam die frohe Botschaft, dass wohl bald auch ganz junge Menschen gegen Covid-19 geimpft werden könnten. Dann folgte eine Nachricht, deren wahre Bedeutung für die Freiheiten meiner Kinder sich wohl erst lange nach der Pandemie bemessen lässt. 

Von einer „bemerkenswerten“, ja „epochalen“ Entscheidung wurde gesprochen, von einem Urteil mit „Signalwirkung“, einer „juristischen Sensation“ mit „weltumspannender Dimension“. Das Bundesverfassungsgericht hat doch tatsächlich den Beschwerden von mehreren jungen Klägerinnen und Klägern gegen das deutsche Klimaschutzgesetz recht gegeben, zumindest in Teilen. Selbst Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer, eine der Klägerinnen, hatte damit nicht gerechnet.

Nun aber ist amtlich: Das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung von 2019, bekannt als das Klimapaket, verletzt Freiheits- und Grundrechte, und zwar – und das ist das Sensationelle – die der künftigen Generationen. Das Gericht kritisierte, dass in dem Gesetz nur CO2-Etappenziele bis zum Jahr 2030 niedergeschrieben seien. Im Interesse der jungen Menschen müsse die Politik nun bis Ende nächsten Jahres auch festlegen, wie es nach 2030 weitergehen soll. Denn Emissionsminderungen müssten so geplant werden, dass künftige Generationen nicht benachteiligt sind. Die Politik dürfe nicht die Opfer, die für den Klimaschutz erbracht werden, einfach den Nachkommen aufbürden. 

Was daraus für uns alle folgt? „Wir müssen endlich aufhören, anderen die Folgen der eigenen Lebensweise aufzuzwingen“, sagte einmal Zeit-Journalist Bernd Ulrich. Das trifft es auch hier. Denn klimaschädliches Verhalten, das wir uns heute herausnehmen, wird den Alltag in den 2030er-Jahren und danach massiv einschränken. Es geht um die Freiheitsrechte einer Generation, die dann mitten im Leben steht.

Auch meine Kinder werden dann junge Erwachsene sein – und hoffentlich mit so viel Leichtigkeit und Entdeckerdrang die Welt erkunden können wie heute. „Alle Tiere sind meine Freunde“, sagte mein Fünfjähriger neulich. Mit großer Begeisterung untersucht er derzeit die Kolonien von Gemeinen Feuerwanzen, die seit ein paar Wochen wieder die Hamburger Hecken und Linden bevölkern. Seine Lieblingsbücher sind Tierlexika, von deren Inhalten auch ich profitiere. So weiß ich nun, dass Heringe mit ihren Fürzen kommunizieren. Sie pupsen sich Nachrichten zu, und das sogar in unterschiedlichen Tonlagen. Mein Sohn möchte Naturforscher werden, wie er sagt. Und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte dazu beitragen, dass noch genügend Natur übrig bleibt, die er erforschen kann.

Dafür muss die Bundesregierung nun nachsitzen – und zwar nicht nur wegen der Beschlüsse, die ab 2030 gelten sollen. Das Gericht hat das Kabinett zwar offiziell nur zur Ausarbeitung von konkreten Maßnahmen ab 2031 verdonnert, doch wie sonst ist zu verstehen, wenn es sagt, die Last der CO2-Reduktion sei unfair verteilt und bürde der jungen Generation übermäßig viel auf? Im Umkehrschluss heißt das ja, auch die aktuellen Maßnahmen müssen nachgebessert werden, um den Jungen nicht zu viel Dreck zu hinterlassen. Ein Kohleausstieg erst im Jahr 2038 etwa ist spätestens jetzt nicht mehr haltbar.

Just in dieser Woche ist eine Initiative von NGOs und Forschenden gestartet, die der Bundesregierung die Arbeit abnehmen könnte: Der Bürgerrat Klima. Am Montag und am Mittwoch kamen erstmalig 160 per Los ausgewählte, nach Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und Herkunft quotierte Wahlberechtigte digital zusammen, um Empfehlungen zu beschließen, wie Deutschland seine Klimaziele erreichen könnte. Zu welch progressiven Ergebnissen solch ein Bürgerrat führen kann, zeigte schon vor zwei Jahren eine Versammlung ausgeloster Französinnen und Franzosen. Denn die fasste überraschend radikale Beschlüsse, darunter ein Tempolimit von 110 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen, ein Verbot von Inlandsflügen sowie von Werbung für klimaschädliche Produkte, nur noch vegetarisches Essen in Kantinen und die Einführung einer Klimasteuer für Reiche.

Ob sich die Bundesregierung wirklich auf derlei Vorschläge aus dem Volk einlassen wird? Frankreich, wo Präsident Emanuel Macron sogar höchstpersönlich den Bürgerrat einberufen hatte, kann hier leider nicht als Vorbild dienen. Macron setzte bislang nur einen Bruchteil der Forderungen um.

Umso wichtiger ist, dass wir endlich eine echte Klimakanzlerin bekommen. Zufälligerweise können die Menschen in nur wenigen Monaten selbst entscheiden, wem sie diesen Job zutrauen und die Aufgabe übertragen, einen fairen Generationenvertrag auszuhandeln.

Damit verabschiede ich mich – im Gegensatz zu den Heringen als Homo Sapiens der Sprache mächtig – und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!

Unterschrift

Frauke Ladleif
Redakteurin