Um deutsche Gärten und Gemüsehöfe mit dem begehrten Substrat Torf zu versorgen, werden in Lettland Moore zerstört. Besuch in einem bedrohten Ökosystem.
Ein Moor stirbt leise. Es schreit nicht, wenn man ihm das Wasser nimmt, sondern verschwindet mitsamt der auf den nassen Lebensraum angewiesenen Vegetation. Der Torfboden trocknet in der Sonne, wird rissig, bricht auf, bis er schließlich schichtweise abgetragen und aufgeschüttet wird, bereit zum Abtransport.
Valters Kinna von der Organisation Zaļā brīvība ("Grüne Freiheit") betrachtet stumm eine Abbaufläche vor den Toren von Riga. Sie ist eintönig braun und groß wie die Münchner Theresienwiese. Ein Kuckuck ruft. "Tja, so sieht der Ort aus, wo der Torf für euch Deutsche herkommt", sagt der 32-Jährige. Dann geht er eine Zufahrtsstraße hinunter, gesäumt von Wällen aus dem bröseligen Material.
Beinahe jedes Gemüse in deutschen Gärtnereien wächst als Jungpflanze auf Torf, auch Bioware. Das Substrat ist luftig, hält Wasser wie ein Schwamm, hat einen niedrigen pH-Wert und ist arm an Nährstoffen, sodass man es für die jeweilige Kultur gezielt mit Dünger versetzen kann. Torf ist das braune Gold des Gartenbaus.
Doch Deutschland möchte aussteigen. Denn für den Rohstoff bauen Unternehmen großflächig Moore ab, rauben einer hochspezialisierten Flora und Fauna ihren Lebensraum und schädigen das Klima. Nur nasse Moore speichern effektiv Kohlenstoff – sobald der Torfboden trockengelegt ist und mit Sauerstoff in Kontakt kommt, beginnen unumkehrbare Abbauprozesse. Mikroorganismen zersetzen das organische Material, enorme Mengen Treibhausgase werden frei. Weltweit stammen etwa vier Prozent der menschengemachten Emissionen aus entwässerten Mooren.
Am Ende der Straße schimmert es metallisch. Neben einer bizarr anmutenden Maschine zur Torfgewinnung stehen Arbeiter und unterhalten sich. Valters Kinna klettert auf einen Hochstand und betrachtet das sterbende Moor von oben. Alle fünf Meter sind Gräben gezogen, von hier aus kann man ihm beim Ausbluten zusehen. An die Böschung eines Kanals klammert sich ein letztes Pflänzchen Wollgras mit puscheligem Blütenstand, eine zarte Erinnerung an das einstige Leben im Moor.
In Deutschland soll der Torfabbau eigentlich enden. Einige Firmen besitzen zum Ärger von Naturschutzgruppen noch langfristige Abbaurechte, allerdings nur auf bereits genutzten und geschädigten Flächen. Der Rückgang der eigenen Torfgewinnung wird durch Importe aus anderen EU-Staaten kompensiert – wo meist naturnahe Moore ausgebeutet werden, die Zerstörung also ungleich größer ist. Lettlands Moore zählen zu den schönsten und wertvollsten in Europa.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat deshalb eine "Torfminderungsstrategie" aufgesetzt. Hobbygärtnerinnen und Gärtner sollen bis 2026 auf torfhaltige Blumenerde verzichten, Gartenbaubetriebe den Einsatz des Kultursubstrats bis 2030 "weitgehend reduzieren". Agrarminister Cem Özdemir und Umweltministerin Steffi Lemke, beide von den Grünen, setzen auf Infokampagnen und "freiwillige Entscheidungen" der Unternehmen. Doch wie realistisch ist der Ausstieg? Und was bedeutet er für eines der wichtigsten Exportländer?
Urige Landschaft
Valters Kinna geht einen schmalen Weg entlang, vorbei am Rechteck der Abbaufläche. Bald sind Wirbel und Mosaike in zahllosen Schattierungen zu sehen, in die Landschaft gemalt von Wasser und Vegetation. Gleich hinter der Abbaufläche liegt der intakte Teil des Cena-Moors. Der Naturschützer schlägt mit einem Stock gegen eine Infotafel und übersetzt: Als sich nach der letzten Eiszeit die Gletscher zurückgezogen hatten, siedelten sich hier vor rund 6000 Jahren erst Sauergräser und Schilf, dann die schwammartigen Torf moose an. Ein hoher Grundwasserspiegel verhinderte, dass Luft an abgestorbene Pflanzenteile gelangte, so wurden sie konserviert. Ein Hochmoor wuchs heran und wölbte sich auf: „Ein Meter Torf entsteht in etwa tausend Jahren“, sagt Kinna. Doch im Jahr 1933 begannen Menschen, Lettlands zweitgrößtes Moor zu entwässern, sieben Jahre später setzte der industrielle Torfabbau ein, der bis heute anhält. In einem tiefen Graben zu Kinnas Linken beginnt ein Froschkonzert.
Seit 2005 versuchen Naturschützer und Wissenschaftlerinnen, die umliegenden, natürlichen Moorflächen zu retten. Im Rahmen von EU-geförderten Projekten des Latvian Fund for Nature und der Universität Lettlands in Riga wurden Entwässerungsgräben zugeschüttet, die an das Abbaugebiet grenzen. Die bekannteste Moorschützerin des Landes, Botanikerin Māra Pakalne, trieb das Projekt voran wie keine andere. Die Torfindustrie spottete: „Biber Pakalne baut Dämme.“ Ihr ist es zu verdanken, dass Teile des Cena-Moores, auf die Valters Kinna nun blickt, unversehrt sind. Zwischen Heide und krüppeligen Kiefern duftet der Sumpfporst. Kinna lässt den Stock liegen und folgt dem Bohlenweg in den Duft hinein.
Die Kiefern werden kahler, überall erscheinen nun kleine weiße Wollgrasköpfe. Der Wanderweg führt durch eine Traumlandschaft. Das Holz knarzt unter Kinnas Schritten, in der Abenddämmerung schwebt eine Libelle. „Das Moor will einfach leben und nass sein“, sagt er. Nur dann würden wir Menschen wirklich von ihm profitieren. Von seiner Fähigkeit, Kohlenstoff zu speichern und Wasser zu reinigen, von den zahllosen Tier- und Pflanzenarten, dem Effekt auf die Seele. Es tue gut, etwas so Weites, Großes, Altes zu spüren. „Deine eigenen Probleme sind dann kleiner.“
Hinter ein paar Kiefern: ein See. Spiegelglatt ist er und wie sein Name „Skaista“: schön. Kinna zieht Schuhe und Kleidung aus. Vorsichtig testet er von einem provisorischen Steg aus das Wasser. Unter der Oberfläche schimmern seine Zehen rötlichbraun, gefärbt vom Moorwasser. Im See spiegelt sich der Himmel, und hinter dem Spiegel? Kinna springt hinein.
Lettland exportierte 2022 laut eigener Statistik Torf im Wert von 294 Millionen Euro, weltweit lag es damit nach Kanada auf Platz zwei. Dabei ist das baltische Land nicht einmal so groß wie Bayern und nur zu fünf Prozent von Mooren bedeckt. China ist der Hauptabnehmer, dicht gefolgt von Deutschland. Es blieben genügend unberührte Moore im Land, behauptet die Torfindustrie. Doch verlässliche Zahlen gibt es nicht.
Fest steht: Rund ein Drittel des in der EU im gewerblichen Gartenbau eingesetzten Torfes stammt aus Lettland. Dem Torfverband zufolge machen die dadurch freigesetzten Treibhausgase 13 Prozent der Emissionen des Landes aus. Weshalb kaum etwas dagegen getan wird? Valters Kinna nimmt an, die Torflobby beeinflusse die Regierung. Der Moorsee liegt jetzt matt und dunkel in der Dämmerung.
Die Tricks der Lobby
Kinnas Organisation kritisierte zuletzt den Einsatz öffentlicher Gelder. Ende 2022 hatte die EU Lettland gut 190 Millionen Euro zugesprochen, um den Ausstieg aus fossilen Rohstoffen zu fördern. Torf zählt dazu wie Kohle und Erdöl, nur dass er jünger ist. Mit dem „Just Transition“-Geld soll etwa die Umrüstung von torfbefeuerten Heizkesseln auf erneuerbare Lösungen finanziert werden.
Allerdings macht die traditionelle Verwendung als Heizmaterial in Lettland nur noch ein halbes Prozent der Nutzung aus. Die 99,5 Prozent des Torfs, der für Gärtnereien bestimmt ist, bleiben in dem Plan unbeachtet. Lettland täusche den Torfausstieg nur vor, kritisiert die „Grüne Freiheit“, und wolle vom Export nicht lassen.
Ein weiteres Problem ist laut Kinna die Nähe von Lobbyverbänden zur Forschung. Die Torflobby drängt darauf, degradierte Moore auch nach dem Abbau weiter zu nutzen: Anstatt sie wiederzuvernässen und so Lebensräume und Kohlenstoffspeicher wiederherzustellen, pocht sie darauf, die Flächen aufzuforsten oder Beerenplantagen auf ihnen anzulegen.
Kinna ärgert sich über das letzte große Forschungsprojekt, an dessen Ende die Behauptung stand, die kommerzielle Nutzung abgebauter Moore sei klimafreundlicher als ihre Renaturierung. Die Studie wurde aufgrund ihrer zweifelhaften Methodik in der internationalen Fachwelt scharf kritisiert. „Man kann mit diesen Ergebnissen nicht arbeiten. Wir brauchen weitere Forschung und ein langfristiges Monitoring“, sagt der Naturschützer und verlässt das nachtdunkle Moor.
Wertvolle Ware
Drei Tage später öffnet Ilze Ozola mit einem Lächeln die Schranke zu „La flora“, einem der größten lettischen Torfunternehmen. In ihrem Kofferraum liegen elegante Gummistiefel mit Reißverschluss. Auch die 40-Jährige versteht sich als Moorschützerin, zugleich ist sie in der Industrie bestens vernetzt. Während sie ihre Doktorarbeit über Moorentstehung schrieb, arbeitete sie für den lettischen Torfverband.
Ozola passiert eine Perlenkette wartender Lkws. Dahinter sauber aufgestapelt und prall gefüllt: Reihen von Torfsäcken. Sie ist mit Sabīna Alta verabredet, der rechten und eigentlich auch linken Hand des Chefs von Laflora, die nun über den Parkplatz auf sie zukommt, mit hellblauem Blazer und Augen derselben Farbe. Sie umarmt Ozola und sagt: „Selbstverständlich habe ich Ilze zugesagt, euch mit auf die Abbaufläche zu nehmen!“
Doch so selbstverständlich ist das nicht. In der Vorrecherche für diesen Artikel schien es zunächst schwierig, vor Ort mit einem Torfunternehmen über Lettland zu sprechen. Die deutsche Unternehmensgruppe Klasmann-Deilmann, Weltmarktführer der Substratindustrie, schlug den Besuch ihrer lettischen Lizenzflächen aus: Journalisten, so die Befürchtung, schrieben sowieso nur schlecht über sie. Ozola aber sagte am Telefon: „Wenn du deine eigene Geschichte nicht erzählst, lässt du viel Raum für Interpretation“, und stellte den Kontakt zu Laflora her.
Ein erdiger Geruch liegt in der Luft, als Ilze Ozola und Sabīna Alta nach dreißig Minuten Fahrt die Türen des Autos öffnen. Vor ihnen liegen aufgestapelte Torfstücke, auf einer Strecke von rund einem Kilometer. In schneeweißen Sneakern geht Alta darauf zu und reißt ein bröseliges Stück auseinander. Im Inneren sind die Fasern feucht und dunkel. Der Torf brauche noch Zeit in der Sonne, sagt sie.
„Deutschland ist einer unserer größten Abnehmer“, erklärt die Laflora-Mitarbeiterin. Sie deutet auf die eingeebnete Fläche: „Vor dem Abbau war das Moor hier mal sieben Meter hoch. Dass Deutschland aus Torf aussteigen will, sehen wir nicht.“ Alta und Ozola nehmen die Ausstiegsankündigungen nehmen sie nicht ernst: Man müsse den Handelspartner mal zwei Monate nicht beliefern und schauen, was passiert, sagen sie – und lachen.
2022 zeigte eine Studie des Thünen-Instituts für Klima und Boden zudem, dass Deutschland einer der Hauptakteure im internationalen Torfgeschäft ist. Mit mehr als 1,1 Millionen Tonnen pro Jahr verarbeitet es mehr Torfsubstrat als alle anderen europäischen Länder. Die Forschenden stießen auf ungenaue Angaben zum nationalen Abbau, immense Einkäufe im Ausland und einen regen Weiterverkauf an Dritte. In der Torfminderungsstrategie des Agrarministeriums wird dieser Torfhandel nicht erwähnt, sie bezieht sich nur auf den inländischen Verbrauch. Ilze Ozola sagt trocken: „Die Deutschen sind für mich Torfdealer.“
Gemüse als Luxus
Im Auto reicht Sabīna Alta Karamellbonbons herum. „Und selbst wenn Deutschland keinen Torf mehr von uns kaufen würde, gäbe es andere Anwärter“, fährt Ozola fort. China, aber auch Italien, Spanien und Südkorea hätten zuletzt viel lettischen Torf abgenommen. Die beiden machen Witze über England, das schon seit Jahren ein Torfverbot plant, es aber immer wieder verschiebt. Zu abhängig sei der Gartenbau von dem Rohstoff.
Die Thünen-Studie kommt zu dem Schluss, der Ausstieg sei nur mit einer gemeinsamen europäischen Strategie machbar. Da achtzig Prozent des weltweiten Torfabbaus in Europa stattfänden, müsse die EU ihrer Verantwortung nachkommen, die Emissionen zu reduzieren.
Ozola schüttelt den Kopf: „Wir alle schaffen die Nachfrage, indem wir Kräuter, Tomaten oder Paprika essen.“ Frisches Gemüse sei besonders im Winter ein Luxus – ein Luxus um den Preis des Torfabbaus, auf den Deutschland nicht verzichten will.
In ihren Augen sollten Firmen auf bereits degradierten und weniger wertvollen Mooren weiterhin Torf abbauen dürfen. Andernfalls drohe eine Krise in der Lebensmittelbranche. Es sei denn – das Auto hält mit einem Ruck – man entwickle Substrate, die den Torf ersetzen können.
Als Alternativen sind Rindenhumus, Kompost, Kokosfasern im Gespräch – und kultiviertes Torfmoos. Ozola springt aus dem Wagen, um zu zeigen, dass sie es selbst versucht hat. Mitten in einer staubbraunen Abbaufläche hat sie einen experimentellen Anbau gestartet. In intakten Mooren wachsen Torfmoose reichlich, ja, sie bilden den Torf und haben somit ähnliche Eigenschaften wie der Rohstoff selbst. Großflächig gezüchtet, könnten sie als Ersatzsubstrat genutzt werden. Ozola konnte Laflora überzeugen, auf einer Versuchsfläche Torfmoos anzubauen.
Doch es knistert unter ihren Gummistiefeln: „Keine Moose mehr“, stellt sie nüchtern fest, „der Boden ist zu trocken.“ Es sei sehr schwierig, das Wasser auf der degradierten Fläche zu halten, erklärt sie. Sie habe versucht, die in Deutschland entwickelte Idee so kostengünstig wie möglich umzusetzen. Aus den Fehlern wolle sie nun lernen. In der Zusammenarbeit mit den Torfunternehmen sieht Ozola noch viel Potenzial.
Spricht ihre Freundin, die Laflora-Mitarbeiterin Sabīna Alta, von der Abbaufläche, wird ihre Stimme weich. Ihr Telefon ist voll von Fotos der leeren Landschaft – im Schnee, im Nebel, im Sonnenaufgang. Sie habe sich hier verliebt, komme mit ihren Kindern her, arbeite Tag und Nacht für das Unternehmen, dieser Ort sei ihr „Zuhause“ – so unterschiedlich kann der Blick aufs Moor sein. Ozola hofft, die Verbundenheit ihrer Freundin zur Fläche nutzen zu können, um sie in eine nachhaltige Richtung zu bewegen.
Ist nun ihr Ansatz erfolgversprechender, die Unternehmen von innen heraus zu ändern, oder Valters Kinnas Vorhaben, sich ganz dagegen zu stellen? In jedem Fall ist eine klare deutsche Haltung nötig. Von ihr hängt die Zukunft der lettischen Moore maßgeblich ab.
Am nächsten Morgen stapft Ilze Ozola in aller Früh in Schneeschuhen über einen Moosteppich. Die Landschaft ist zart, in den Spinnennetzen hängen glitzernde Tropfen. Ihr folgt eine Gruppe von Frauen mit Smartphones und GoPro-Kameras. Sie filmen den dicken Nebel, die goldenen Baumumrisse. Ozola führt Interessierte durch Moore, klärt auf und erzählt von ihrem Verschwinden in Europa. „Ich möchte, dass Menschen in Lettland über Moore nachdenken“, erklärt sie.
Sie setzt die Füße behutsam aufs Moos und geht schweigend weiter – über ein Moor im Norden Lettlands, das noch lebt.
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 2.24 "Böden". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!