Pilze faszinieren durch ihr Erscheinungsbild und ihre Lebensweise – und bieten ein unterschätztes Weltrettungspotenzial. Dass aus ihnen ökologische Baustoffe heranwachsen können, dass sich mit ihrer Hilfe Wälder und Klima schützen und Böden dekontaminieren lassen, all das ist noch viel zu wenig bekannt.
Wer in einem Pilzhaus lebt, ist ein Schlumpf. Doch wenn es nach Patrik Mürner geht, ändert sich das bald. In einer Lagerhalle in Emmenbrücke im Schweizer Kanton Luzern züchtet der Produktdesigner die Bauplatten für seine ersten Aufträge als Pilzarchitekt. Nach dem Motto: „Myzel statt Beton.“
Mürner – gestreiftes Sweatshirt, Schirmmütze, leuchtende Augen – reicht eine quadratische Platte herüber, zwei Zentimeter dick und erstaunlich leicht. „Sieht nur nach Sperrholz aus“, sagt er und grinst. „Ist Austernseitling.“ Dutzende Pilzbauplatten hat er bereits gezüchtet und in der Halle gestapelt.
„Alles keine Hexerei“, sagt er. Er füllt flache Kunststoffbehälter in Form solcher Platten mit Holzspänen und anderen Pflanzenabfällen und gibt Pilzmyzel mit etwas Wasser dazu. Das Myzel – ein Geflecht aus Zellfäden, die gewöhnlich wie hauchzarte Wurzeln in der Erde oder morschem Holz wachsen – beginnt, sich im Substrat auszubreiten und es abzubauen. Binnen drei Wochen bilden sich Strukturen aus, die an Sperrholzplatten erinnern. Mürner nimmt sie aus der Form und erhitzt sie in einem Spezialofen auf sechzig Grad, der Pilz stirbt ab. Fertig. „Gebäude aus Myzel werden bald alltäglich sein“, ist er überzeugt. Und: „Pilze sind in der Lage, einen Großteil unserer Probleme zu lösen!“
Helfer beim Landgang
Unstrittig ist, dass die Menschheit bereits enorm von Pilzen profitiert. Mithilfe von Schimmelpilzen wurden hochwirksame Antibiotika entwickelt. Andere Arten sind eine wichtige Nahrungsquelle – Austernseitlinge etwa lassen sich auch gut in der Pfanne braten. Wieder andere säubern verseuchte Böden von Schwermetallen oder radioaktiver Strahlung. Wahrscheinlich verdanken wir Pilzen sogar unsere Existenz, da erst mit ihrer Hilfe die Besiedlung der Kontinente möglich wurde. „Vor rund 450 Millionen Jahren gingen Pilze eine Symbiose mit Pflanzen ein, die im Urozean lebten“, sagt der Agrarwissenschaftler und Pilzforscher Jan Lelley, 84. „Mit ihrem Myzel übernahmen sie die Funktion eines Wurzelwerks und ermöglichten es Wasserpflanzen, mit ihren rudimentären Wurzeln an Land Fuß zu fassen.“ Ohne Pilze hätten sich also wohl weder Gräser und Bäume noch Landtiere entwickelt. „Auch der Mensch wäre kaum entstanden“, so Lelley, der an den Universitäten Bonn und Budapest jahrzehntelang über „Nutzpilze“ lehrte und 2018 das spannende Sachbuch „No fungi no future – Wie Pilze die Welt retten können“ veröffentlicht hat.
Was wir als „Pilz“ bezeichnen und als Champignon oder Pfifferling essen, ist eigentlich nur deren Fruchtkörper, das Fortpflanzungsorgan. Der Hauptteil dieser Organismen befindet sich als Myzel unter der Erde. Etwa 100.000 Arten sind beschrieben, ständig werden neue entdeckt. Forschende schätzen, dass es rund 1,5 Millionen Pilzspezies geben könnte – mehr als Pflanzen. Auch der größte lebende Organismus ist ein Pilz: Im US-Staat Oregon erstreckt sich ein jahrtausendealter und Hunderte Tonnen schwerer Hallimasch – unterirdisch – über eine Fläche von 1200 Fußballfeldern.
Pilze wachsen faszinierend schnell. Manche können ihr Volumen binnen Stunden vertausendfachen. Fachleute wie Lelley hoffen, dass sich mit ihrer Hilfe Hungerkrisen bewältigen lassen. Im Jahr 2050 werden fast zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, sie sicher zu ernähren erfordert bis zu sechzig Prozent mehr Lebensmittel. „Pilze werden eine zentrale Rolle spielen“, sagt Lelley.
Experten wie er denken da nicht an Steinpilze oder gar Trüffel, deren edelste Sorten mehr als 2000 Euro pro Kilo kosten, sondern an schnell wachsende Arten wie den Austernseitling. Agrarforschende der Uni Bonn haben berechnet: In wirtschaftrechtlich schwachen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ließen sich auf Reststoffen wie Bananenblättern, Hirsestroh, Baumwollabfällen und Zuckerrohrresten jährlich mehr als 500 Millionen Tonnen Austernpilze züchten, weltweit gar bis zu zwei Milliarden Tonnen. Zum Vergleich: Die globale Getreideproduktion liegt derzeit bei rund 2,8 Milliarden Tonnen.
Klimaretter unter Tage
Laut Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung könnten Pilze auch im Kampf gegen die Klimakrise helfen. Weltweit ließen sich Waldrodungen halbieren, errechneten die Forschenden, wenn bis 2050 nur ein Fünftel des Rindfleischkonsums durch Alternativen aus Pilzen gedeckt würde. Veggieburger und anderer Fleischersatz auf Basis mikrobieller Proteine aus Pilzkulturen ähneln in Geschmack und Konsistenz tierischen Produkten. Erste Anbieter lassen schon Myzel in Nährlösungen heranwachsen. Manch Burgerbräter klemmt auch einfach gebratene Riesenpilze zwischen die Brötchenhälften.
Wälder sind ohnehin Pilzrevier: Bereits heute speichern Mykorrhizapilze, die in Symbiose mit Bäumen an deren Wurzeln leben, jedes Jahr weltweit mehr als 13 Gigatonnen Kohlenstoff, hat ein internationales Forschungsteam ermittelt. Das ist mehr als ein Drittel der Menge, die jährlich bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe frei wird. Die Forschenden um Heidi Jayne Hawkins von der Universität Kapstadt schlagen vor, in Wäldern zusätzlich Mykorrhizapilze anzubauen – so könnten außer dem rechnerisch Millionen Menschen ernährt werden.
Wieso aber Häuser aus Pilzmyzel? „Ganz einfach“, sagt Architekt Patrik Mürner aus Emmenbrücke. „Insbesondere Beton hat eine katastrophale Energiebilanz. Man kann in Häusern gar nicht so viel Energie einsparen, wie bei seiner Produktion verschwendet wird.“ Pilzkomposite dagegen seien billig und CO2-neutral – und könnten Beton und viele andere problematische Baustoffe entbehrlich machen. Kürzlich hat Mürner in einem Kulturzentrum bei Luzern ein Parkett aus Pilzgewebe verlegt, nun wird er ein Gartenhäuschen bauen. „Vor allem als Fingerübungen“, sagt er und streicht über eine Platte aus Myzel. Bald will er Wohngebäude im Stil ländlicher Fachwerkhäuser errichten. Was Robustheit und Wasserfestigkeit angeht, vertraut er auf Lackporlinge. „Die harte Haut ihrer Fruchtkörper eignet sich perfekt für Gebäudefassaden“, sagt er.
Der US-Architekt David Benjamin hat in New York bereits 2014 ein zwölf Meter hohes Gebäude aus Tausenden Myzelziegeln geschaffen – ein Kunstobjekt. Mürner muss noch viele Hürden überwinden. Doch auch die Biotechnologin Lisa Stelzer von der TU Berlin hält ein- oder zweistöckige Wohnhäuser aus dem organischen Material für realistisch. Gerade bei Dämmplatten sei das Potenzial gewaltig. „In Neubauten könnte Pilzmyzel da viele andere Materialien ersetzen.“ Experimente deuten darauf hin, dass durch ihre Fähigkeit zur Aufnahme und Abgabe von Feuchtigkeit kaum Kondenswasser zwischen Außenwand und Isolierung entsteht. Und: „Pilzmyzel lässt sich – anders als Styropor, Hartschaum oder Glaswolle – recyceln und am Ende kompostieren.“ Werde ein Haus abgerissen, könne man das Material häckseln und, vermischt mit etwa zehn Prozent frischem Myzel und Sägemehl, neue Platten daraus züchten.
Lisa Stelzer und ihre Kolleginnen vom Fachbereich Mikrobiologie der Technischen Universität Berlin experimentieren insbesondere mit dem Myzel von Zunderschwämmen, großen Baumpilzen, aus dem man eine Art Spanplatte für den Innenausbau heranwachsen lassen kann. Zwar ist dieses Material noch recht teuer.
Aber durch die reststoffbasierte Produktion und durch Automatisierung werden die Kosten bald sinken, da ist die Biotechnologin überzeugt. „Wir führen bereits Gespräche mit potenziellen Partnern, die an der industriellen Produktion interessiert sind.“ Vielleicht seien nicht Häuser, die ausschließlich aus Pilzmyzel bestehen, die Zukunft, sagt Stelzer, „sondern eine kombinatorische Bauweise aus Holz, Lehm und Pilzkompositen, die einen großen Teil des Innenausbaus ausmachen werden“.
Süße Symbiose Pilze bilden ein eigenes Reich zwischen Pflanzen und Tieren. Anders als Pflanzen verfügen sie über kein Chlorophyll. Sie sind daher nicht in der Lage, durch Fotosynthese Zuckermoleküle zu bilden. So wie Tiere benötigen sie stattdessen organische Nahrung. Zwischen Mykorrhizapilzen und Bäumen kommt es zu einem Tauschhandel: Wenn Pilze sich etwa in Risse von Felsen bohren, sondern sie Säuren ab, die das Gestein zersetzen und zum Beispiel Eisen, Phosphor oder Kalzium verfügbar machen. Diese werden dann zum Teil an die Bäume weitergegeben, erklärt Agrarforscher Lelley. „So verbessert Mykorrhiza deren Versorgung mit Mineral- und Mikronährstoffen.“
Im Gegenzug profitieren die Pilze vom Zucker, den die Pflanzen mithilfe des Sonnenlichts erzeugen. Weil die Mykorrhizapilze außerdem die empfindlichen Wurzelspitzen ummanteln und antibiotisch wirkende Substanzen ausscheiden, schützen sie die Pflanzen überdies gegen Schädlinge. Ende der Neunzigerjahre zeigte Lelley, dass sich selbst uralte, kranke Bäume durch das Impfen mit speziellen Mykorrhizapilzen vor dem Absterben retten lassen – etwa eine 700 Jahre alte Eiche bei Freudenberg in Nordrhein-Westfalen. Manche Landwirte setzen bereits auf Mykorrhiza-Impfungen.
Die Symbiose mit den Pilzen wirkt sich auch positiv auf das Wachstum von Nutzpflanzen wie Mais, Weizen oder Kartoffeln aus, haben Fachleute des schweizerischen Kompetenzzentrums Agroscope gezeigt. „Sie verbessern die Bodenfruchtbarkeit, machen ihre Wirtspflanzen resistenter gegen Trockenheit und Krankheiten und vermindern die Auswaschung von Nährstoffen oder die Emission von Lachgas“, heißt es in ihrer Studie. Nicht minder beeindruckend sind die Leistungen von Pilzen als Abfallentsorger: Mit ihren Säuren und Enzymen können sie einige der hartnäckigsten Substanzen abbauen, nicht nur Lignin und Gestein, sondern auch toxische Stoffe von Glyphosat über den Sprengstoff TNT bis hin zu Dioxin. Und Aspergillus tubingensis, ein Schimmelpilz, der im Boden und auf Feldfrüchten vorkommt, sondert ein Sekret ab, das die Molekülketten mancher Kunststoffe löst. Binnen Wochen kann er auf diese Weise Plastikmüll abbauen, der sonst jahrhundertelang in der Natur verbleiben würde, so lassen Experimente von Forschenden aus Pakistan und China hoffen.
Im ostchinesischen Dafeng fanden Fachleute auf Kunststoffabfällen unlängst sogar 184 plastikzersetzende Pilzarten. „Das Problem der Plastikverschmutzung unserer Umwelt ist dadurch aber noch keineswegs gelöst“, betont der Chemiker Christian Sonnendecker von der Universität Leipzig. Zwar lasse sich etwa PET, das zum Beispiel für Getränkeflaschen verwendet wird, durch bestimmte Pilzenzyme tatsächlich abbauen. Andere Massenkunststoffe wie PE, PP, PVC oder Polystyrol seien dagegen aber nahezu resistent. „Wir sollten also sehr gut überlegen, welche Art von Plastik wir künftig einsetzen“, sagt Sonnendecker. Auch müsse die Entwicklung neuer Kunststoffsorten, die sich – etwa von Pilzen – leichter zersetzen lassen, dringend vorangetrieben werden.
Nothilfe im Reaktor Es gibt sogar Pilze, die atomare Katastrophen verkraften. Wenige Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986 machten Forscher eine verblüffende Entdeckung: In der havarierten Atomanlage, in der die Strahlung so stark war, dass nur Roboter Proben nehmen konnten, bildete sich Schimmel. Und in Experimenten von US-Forschenden wuchsen manche Pilze, die sie radioaktiver Strahlung aussetzten, dreimal schneller.
Der Mikrobiologe Johannes Raff, Leiter der Abteilung Biogeochemie am Helmholtz-Zentrum in Dresden, hat zwischen 2016 und 2019 selbst in Tschernobyl geforscht. Die Messungen seines Teams belegen, dass manche Pilze radioaktive Cäsium- und Strontiumisotope aus dem verseuchten Boden aufnehmen. Insbesondere der Gemeine Spaltblättling, Schizophyllum commune, kann hohe Dosen radioaktiven Urans und weiterer Radionuklide absorbieren, ohne abzusterben.
In der Region um den Katastrophenreaktor reicht das Ansiedeln von Spaltblättlingen leider nicht aus, damit dort wieder Nahrungspflanzen angebaut werden könnten. Zu viele unterschiedliche radioaktive Isotope verseuchen den Boden. Bei weniger schweren Atomunfällen sieht Raff hingegen gute Chancen, Pilze als Nothelfer einzusetzen. „Da diese Organismen sich so außergewöhnlich schnell und weiträumig ausbreiten können“, sagt er, „sind sie bei akuten Störfällen in Kernkraftwerken, etwa Leckagen in Rohrleitungs- und Schleusensystemen, eine erstklassige Option. Sie könnten verhindern, dass radioaktive Stoffe ins Grundwasser gelangen.“
Bei einem Super-GAU oder gar einem nuklearen Krieg würde das alles nichts helfen – Pilze gegen Atompilze, das klappt nicht. Aber mehr und mehr Fachleute sind überzeugt, dass diese geheimnisvollen Organismen aufgrund ihrer außerordentlichen Vielseitigkeit der Menschheit dabei helfen könnten, einige ihrer größten Probleme in den Griff zu bekommen.
Und während manche Expertinnen und Experten bezweifeln, dass sich Wohnhäuser in Zukunft ausschließlich aus Pilzmyzel bauen lassen werden, wollen andere bereits noch höher hinaus: Die US-amerikanische Raumfahrtbehörde NASA plant, bemannten Missionen ins All künftig mit Myzel gefüllte Passformen mitzugeben – zur Züchtung von Bauteilen für Häuser auf fernen Planeten.
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 1.24 "Gefühle". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!