Die ganze Welt schaut auf den Amazonas-Regenwald. Brasiliens Präsident aber schaut auf die Wälder in Deutschland. Und liegt damit nicht ganz falsch, findet Wolfgang Hassenstein
Was mir Sorgen macht: Das Wald-Inferno in Amazonien
Der Sommer 2019 hat mein mulmiges Gefühl verstärkt, dass das System Erde womöglich nicht erst bei einer Erwärmung um 1,5 oder gar zwei Grad „außer Kontrolle“ geraten könnte, sondern schon jetzt dabei ist – bei einem Plus von einem Grad.
Erst die spektakuläre Hitzewelle im Juli, bei der es erstmals in Deutschland weiträumig und an mehreren Tagen in Folge über vierzig Grad heiß wurde. Dann die apokalyptischen Bilder vom Amazonas, wo rund 44.000 Brände loderten. Und dazu all die Meldungen, für die angesichts der Nachrichtenfülle im Kopf kaum noch Platz ist: Die Packeisfläche in der Arktis – auf den bisher zweitniedrigsten Wert geschrumpft; der Zustand des Great Barrier Reefs vor Australien – aufgrund der Meereserwärmung von „schlecht“ auf „sehr schlecht“ hinuntergestuft. Klimaforscher fürchten nun, dass bereits erste „Kipppunkte“ erreicht werden, vor denen sie lange gewarnt hatten. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut vergleicht sie mit einer Kaffeetasse, die man langsam über den Tischrand schiebt – bis sie abstürzt.
So beobachteten Wissenschaftler im Sommer 2019 mit besonderer Sorge, was in den arktischen Tundren rund um den Globus passierte. Auch dort brannten besonders viele Feuer, länger und intensiver als je zuvor, verursacht durch ungewöhnlich trockene Böden und extreme Temperaturen. Alaska meldete an mehreren Tagen mehr als dreißig Grad. Über Sibirien zogen Rauchwolken, größer als die EU.
Ein Teufelskreis droht sich zu schließen: Wenn Wälder und Torfböden brennen, werden riesige Mengen CO2 frei. Das beschleunigt wiederum die Erwärmung, die in der Polarregion schon jetzt doppelt so schnell voranschreitet wie anderswo. Noch mehr Untergrund taut auf, noch mehr Kohlenstoff und Methan werden frei, noch mehr Böden trocknen aus. Blitzschläge, die im neuen Nordklima ebenfalls häufiger werden, entzünden weitere Feuer.
Da ist es ironischerweise fast schon beruhigend, dass es sich am Amazonas um Brandstiftungen handelte, mit denen Farmer Platz für immer neue Rinderweiden und Sojafelder schaffen. Waldexperten befürchten, dass auch das dortige Ökosystem schließlich kippen und verdorren könnte – wenn 20 bis 25 Prozent des regenspendenden Waldes zerstört sind. Dieser Punkt könnte bald erreicht sein.
In den Pflanzen des Amazonas-Regenwaldes sind rund hundert Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert. Noch.
Was mich hoffen lässt: Das Wald-Potenzial in Germanien
Während Brasiliens Regenwald in Flammen stand, twitterte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Ende August etwas pathetisch: „Unser Haus brennt.“ Sein brasilianischer Amtskollege Jair Bolsonaro war über diese „kolonialistische“ Anmaßung empört und lehnte die von den G7-Staaten angebotene Millionenhilfe zur Bewältigung der Krise rundheraus ab – mit einer Botschaft an die „liebe Frau Angela Merkel“: „Nehmt das Geld und benutzt es, um Deutschland aufzuforsten, okay?“ Dort werde es dringender gebraucht.
So deprimierend die Twittertiraden des Abholzungsfreundes Bolsonaro waren, der Streit hatte auch sein Gutes: Selten zuvor bekam ein regionales Umweltproblem so viel globale Aufmerksamkeit, was auch viele Brasilianer beeindruckte. Millionen Menschen wurde durch die Brände im Jahr 2019 bewusst, dass das Schicksal des Amazonas-Regenwaldes in der Klima- und Biodiversitätskrise eben keine rein nationale Angelegenheit ist.
Macrons Tweet mag missverständlich gewesen sein, aber wenn man „unser Haus“ auf den ganzen Planeten bezieht, dann passt es. „Wir sitzen alle in einem Boot“, heißt es ja auch; mir persönlich gefällt das Bild vom „Raumschiff Erde“ am besten, auf dem die Menschheit durchs All gleitet. Und jedem leuchtet ein, dass es eine dumme Idee ist, in Brand zu setzen, was einen schützt und hält – ob nun im wörtlichen oder im übertragenen Sinn.
Wälder sind also ein globaler Schatz, und deshalb hatte Bolsonaro auch ausnahmsweise mal recht, als er mit dem Finger auf Deutschland zeigte: Auch was im Hambacher Forst geschieht, mit „unseren“ Wäldern und einstigen Moorflächen insgesamt, geht alle etwas an. Tacitus beschrieb das freie Germanien einst als terra aut silvis horrida aut paludibus foeda – ein Land voller „schrecklicher Wälder und abscheulicher Sümpfe“. So etwas würden wir heute sofort unter strikten Naturschutz stellen.
Dort, wo in Mitteleuropa die Wälder nicht längst abgeholzt sind, stehen heute Wirtschaftsforste, artenarm und labil, die nun, geschwächt von zwei Hitzesommern, großflächig dem Borkenkäfer zum Opfer fallen. Aber das muss nicht so bleiben. Deutschlands Wälder werden zwar nie wieder Urwälder im eigentlichen Sinne sein, könnten sich aber, wenn man sie ließe, in diese Richtung entwickeln.
Forstexperten haben 2018 für eine Greenpeace-„Waldvision“ errechnet, dass bis Ende des Jahrhunderts rund 48 Millionen Tonnen CO2 jährlich in Stämmen, Ästen und Wurzeln gespeichert werden könnten, wenn großflächig eine ökologische Waldnutzung eingeführt und ein Viertel weniger Holz geerntet würde. Dafür, dass Deutschland ein kleines Land ist, ist das eine Menge. Nebenbei würde uns so ein Umsteuern glaubwürdiger machen.
Zurzeit leiden nicht nur Fichten und Kiefern, sondern sogar Buchen, doch wie am Amazonas zeigt sich, dass Wälder umso robuster sind, je größer die Vielfalt an Arten und Altersklassen ist. Die aktuelle Krise des Waldes hat die Frage, wie wir mit ihm in Zukunft umgehen sollen, ganz oben auf die politische Agenda gebracht. Für die Idee einer schonenden Waldnutzung, die den Wald nicht nur als Forst, sondern als Ökosystem sieht, gibt es neue Verbündete – sogar in Teilen der Bundesregierung.