Joe Biden ist mit 78 Jahren der älteste gewählte Präsident der USA, zu verdanken hat er das ausgerechnet den jüngsten Wahlberechtigten. Mehr Jungwähler*innen denn je gaben bei der vergangenen US-Wahl ihre Stimmen ab, die Mehrheit von ihnen stimmte für Biden, unter ihnen vor allem die jungen People of Colour. Laut Erhebungen des Forschungsinstituts Circle der Tufts Universität in Massachusetts wählten 73 Prozent der jungen Latinos und 87 der jungen Schwarzen den demokratischen Kandidaten. „In Staaten wie Georgia und Arizona könnten junge Schwarze und Latinos Biden de facto im Alleingang konkurrenzfähig gemacht haben“, schreibt das Institut. Wieso aber schenkten sie ihre Unterstützung einem alten weißen Mann?
Einen großen Einfluss darauf dürfte das „Sunrise Movement“ gehabt haben, zu Deutsch die „Bewegung des Sonnenaufgangs“. In ihr versammeln sich junge Menschen quer durch die USA, um gemeinsam für eine schärfere Klimapolitik zu kämpfen. „Biden hat diese Wähler für sich gewonnen, weil er sich unsere Sorgen angehört hat“, ist Varshini Prakash überzeugt, die Geschäftsführerin und Mitgründerin der Klimabewegung. Und zum Dank fürs Zuhören gaben die Aktivist*innen Biden ihre volle Unterstützung: Sie verschickten knapp 800.000 Postkarten, gut 2,6 Millionen Textnachrichten, tätigten knapp sechs Millionen Anrufe. Dabei war Joe Biden alles andere als ihre erste Wahl. Im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur hatte das Sunrise Movement Bernie Sanders unterstützt – bekannt für seine energischen klimapolitischen Forderungen. Joe Biden hatte bei dem Votum der Bewegung für ihren Spitzenkandidaten klägliche 0,36 Prozent der Stimmen bekommen.
Das war vor ziemlich genau einem Jahr. Seitdem hat das Sunrise Movement an der Seite von Bernie Sanders seinen ehemaligen Kontrahenten Joe Biden dazu gebracht, den ambitioniertesten Klimaschutzplan aller Zeiten anzukündigen – und half ihm im Gegenzug bei seinem Sieg über den republikanischen Amtsinhaber Donald Trump. Für eine wenige Jahre alte Organisation, deren Mitglieder hauptsächlich Anfang bis Mitte zwanzig Jahre alt sind, ist das ein beträchtlicher Einfluss auf die US-Politik. Zu diesem Erfolg führten Beharrlichkeit, Reaktionsfähigkeit, starke Allianzen, gegenseitiges Vertrauen und Lehren aus der Vergangenheit.
Das Sunrise Movement wurde 2017 von acht Aktivist*innen mit der Unterstützung des Sierra Club – der ältesten und größten Umweltschutzorganisation der USA – gegründet. Beraten ließen sie sich von erfahrenen Bewegungen wie Black Lives Matter oder Occupy Wall Street. Die Aktivist*innen luden zu Trainingslagern ein, in denen sie Freiwillige für ihre neuen Aufgaben ausbildeten: Sie verteilten sie auf die Bundesstaaten in sogenannte „Movement Houses“, deren Miete sie mit Spendengeldern finanzierten. Als Vorbild für diese Art der Organisation diente ihnen das „Student Nonviolent Coordinating Committee“, eine der wichtigsten Organisationen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den Sechzigerjahren. Von den Häusern aus suchten sich die Aktivist*innen Kandidat*innen der Demokrat*innen aus, die für eine progressive Klimapolitik standen, und unterstützen ihren Wahlkampf – zuerst bei den Halbzeitwahlen 2018, dann bei den Präsidentschaftswahlen 2020. Einige wenige der Aktivist*innen arbeiten für ein regelmäßiges Gehalt, einige bekommen Stipendien, viele engagieren sich freiwillig und pausieren dafür sogar ihr Studium.
Die zentrale politische Forderung der Bewegung ist ein Green New Deal, der würde bedeuten: Die gesamte Wirtschaft der USA wird auf den Schutz des Klimas ausgerichtet, mit einer Arbeitsplatzgarantie, Krankenversicherung und Wohnung für alle Amerikaner*innen. Nachdem der Plan anfangs etwa von der Demokratin Nancy Pelosi als „Green Dream“, grüner Traum, veralbert wurde, fand er dann doch die Unterstützung zahlreicher Demokrat*innen, einer von ihnen sollte Joe Biden sein.
Auch Alexandra Ocasio-Cortez verpflichtete sich dem Green New Deal. Mit der Unterstützung des Sunrise Movements hatte sie es vor zwei Jahren für den 14. Kongresswahlbezirk von New York in das US-Repräsentantenhaus geschafft. Mit ihren scharfen Reden wurde sie in kürzester Zeit weltberühmt – und sie erinnerte sich an die Hilfe des Sunrise Movements, und revanchierte sich. Als rund 200 Aktivist*innen vor zwei Jahren das Büro von Nancy Pelosi besetzten, um sie vom Green New Deal zu überzeugen, schaute Ocasio-Cortez vorbei. „Das war der Wendepunkt“, sagt die Aktivistin Claire Tacherra-Morrison, die an dem Tag dabei war. Bis zu diesem Tag hatten sie 15 Ortsgruppen, in den Wochen danach wurden es mehr als 200.
Einige Wochen nach der Protestaktion sprach sich Massachusetts‘ Senator Edward Markey dafür aus, die Forderung des Sunrise Movement nach einem Klimaausschuss in einen Gesetzentwurf zu verwandeln. Bald darauf dankten die Aktivist*innen Markey für ihren neu gewonnenen Einfluss. Denn als Edward Markey vom prominenten Joe Kennedy III herausgefordert wurde, sanken seine Umfragewerte drastisch. Also startete das Sunrise Movement eine Kampagne für Makrey, die das Forbes Magazin später als die „Kampagne des Jahres“ feiern würde – und führten ihn zum Sieg.
Dass Joe Biden in diesen Tagen nun sein Amt mit dem ambitioniertesten Klimaschutzplan aller Zeiten antritt, auch das ist in Teilen der jungen Bewegung zu verdanken. Anfangs hatte er nämlich nur angekündigt, sein Land mit einem Budget von 1,7 Billionen Dollar bis 2050 klimaneutral zu machen. Das Sunrise Movement zeigte sich wenig begeistert, und Joe Biden reagierte. Über drei Monate hinweg ließ er sich von mehreren Expert*innen beraten, darunter auch von der Sunrise-Aktivistin Varshini Prakash. Das Ergebnis: Ein aggressiverer und umfangreicherer Plan, der den Stromsektor bis 2035 klimaneutral machen will, den sofortigen Wiedereintritt in das internationale Pariser Klimaabkommen beinhaltet und das Budget auf zwei Billionen Dollar aufstockt, die über vier Jahre zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Schaffung von Anreizen für energieeffizientere Autos, Häuser und Geschäftsgebäude ausgegeben werden sollen.
Die Trump-Kampagne verspottete Biden als „Marionette“ der Aktivist*innen, aber der zeigte sich davon ungerührt. „Ich möchte, dass junge Klima-Aktivist*innen, junge Menschen überall, wissen: Ich sehe euch. Ich höre euch. Ich verstehe die Dringlichkeit, und gemeinsam können wir das schaffen“, ließ er sie im August letzten Jahres wissen – und sie wählten ihn in Scharen.
Wie gut die Zusammenarbeit halten wird, wenn der neue Präsident sein Amt aufnimmt, muss sich nun zeigen. Das Sunrise Movement fordert von ihm etwa die Schaffung eines mit weitreichenden Möglichkeiten ausgestatteten Büros für Klimamobilisierung, in Anlehnung an das Büro für Kriegsmobilisierung, das Franklin D. Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs gegründet hatte. Bislang sieht es nicht danach aus, als würde Biden dem Wunsch Folge leisten. Die Aktivist*innen kündigten an, ihn gegen mögliche Widerstände der Republikaner*innen zu unterstützen, sie werden ihn aber auch genau beobachten. Am 21. Januar hielt das Sunrise Movement einen Aktionstag ab, an dem es den Präsidenten an die Einhaltung seiner Versprechen erinnerte.
Eine Frage drängt sich auf: Erwägen die Aktivist*innen auch selbst in die Politik zu gehen, so wie das hierzulande auch einige Aktivist*innen der Bewegung Fridays for Future tun? Varshini Prakash beantwortete das in einem Interview mit Bloomberg folgendermaßen: „Die Frage ist: Welche ist die Rolle, die für die Bewegung am nützlichsten ist? Im Moment ist es die, Teil von Sunrise zu sein. Zu einem zukünftigen Zeitpunkt könnte es aber sicherlich die sein, für ein Amt zu kandidieren.“ Gut vernetzt wäre sie jedenfalls schon.
Donald Trump versus Joe Biden – die zurückliegende Präsidentschaftswahl in den USA war an Dramatik kaum zu überbieten. Es ging um die ganz großen Fragen: Wie geht es mit der amerikanischen Demokratie weiter, was zählen dabei Menschenrechte und Umweltschutz und auf welcher Grundlage werden künftig politische Entscheidungen getroffen? Hier finden Sie unsere Beiträge zum Thema