Liebe Leserinnen und Leser,
Nun sind es mittlerweile 50 Tage. Während bei uns die Feiertage anstehen und suggerieren, wir könnten einfach mal den Pausenknopf drücken, geht das woanders nicht. Russland führt weiterhin Krieg in der Ukraine. Der Westen reagiert mit Sanktionen, wobei das oberste Prinzip, der Wirtschaft nicht zu schaden, zu teils abenteuerlichen Konstruktionen führt. Zwar haben sich EU und Verbündete entschlossen, sieben russische Banken vom Finanzinformationssystem Swift auszuschließen. Nur eben nicht die größte russische Bank Sberbank und die Gazprombank – denn beide sind für die Bezahlung der Energielieferungen relevant.
Und von denen sind Deutschland und andere EU-Länder abhängig. Das soll sich zwar ändern, aber eher peu à peu als ad hoc: Laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck könnten russische Ölimporte nach Deutschland bis zum Sommer halbiert werden und zum Herbst hin will Deutschland auf russische Kohle verzichten. Erst im Sommer 2024, so heißt es, schaffen wir es, uns vom russischen Gas zumindest weitgehend unabhängig zu machen.
Andere Deals bleiben ganz ohne Ablaufdatum. So lautet die Antwort auf die Frage „Darf man mit einem kriegstreibenden Land Handel treiben?“ bei metallischen Rohstoffen anscheinend: Ja! Nach Informationen des ARD-Politikmagazins Kontraste hat sich die Bundesregierung in vertraulichen Gesprächen mit der EU erfolgreich dafür eingesetzt, bestimmte Metalle wie Nickel, Palladium, Kupfer, Eisenerz, Aluminium und Titan von neuen Russland-Sanktionen auszunehmen. Denn auf diese Rohstoffe ist Deutschlands Industrie angewiesen, auch beim Bau von Solaranlagen, Windturbinen und Batterien für Elektroautos.
Sprich: Die Energiewende, die uns mehr Unabhängigkeit von fossilen Energien verspricht, droht somit alte Abhängigkeiten zu verstärken oder neue zu schaffen. Das Dilemma, welchen Handelspartner man wählen soll, beginnt von vorne. Wobei die Auswahl beim Gas besonders dünn ist. Das weiß auch Robert Habeck, den es bei seiner Suche nach Flüssiggas und Wasserstoff bis nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate verschlug. Amnesty International spricht in einem aktuellen Bericht davon, dass in Katar Gastarbeiter zum Teil unter Bedingungen leiden, die an Zwangsarbeit grenzen. Und in Saudi-Arabien, das neben seiner Ölförderung auch seine Gasproduktion ausweiten will, berichteten Staatsmedien im März von 81 Exekutionen an einem Tag. Wo also liegt die moralische Grenze für Handelsbeziehungen: bei Krieg, ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, rigiden Abtreibungsverboten, verschmutzten Flüssen, der Todesstrafe?
Die aktuelle Debatte zeigt, wie schwierig es ist, eine Balance zwischen ethischen Ansprüchen und wirtschaftlichen Interessen zu finden. Deshalb müssen wir uns die Frage gefallen lassen, nach welchem Prinzip sich unsere Handelspolitik eigentlich langfristig ausrichten soll: Wirtschaftlichkeit oder Moral?
Lieferkettengesetze sind ein erster Schritt in Richtung einer ethisch geleiteten Handelspolitik. Deutschland und Staaten wie Großbritannien, Frankreich und Australien haben Gesetze auf den Weg gebracht, die Unternehmen verpflichten, Menschenrechte bei der Produktion zu beachten. Bei uns tritt solch ein Gesetz am 1. Januar 2023 in Kraft, es wurde letztes Jahr beschlossen. Bis dato sollten sich Unternehmen freiwillig zu fairem Handel verpflichten. Dieses Experiment ging gründlich schief, über 80 Prozent der Firmen kamen ihren Sorgfaltspflichten nicht nach.
Jetzt will die EU nicht nur nachziehen, sondern es besser machen. Im Gegensatz zum deutschen Gesetz, dessen Entwurf meine Kollegin Frauke Ladleif seinerzeit enttäuscht kommentierte, fällt der Entwurf der EU-Kommission strenger aus.
Prinzipiell sollen die erfassten Unternehmen überprüfen, woher ihre zugelieferten Waren kommen, wie sie hergestellt wurden und welche Folgen damit für Mensch, Klima und Umwelt einhergehen. Das schließt nicht nur die direkten Lieferbetriebe, sondern die komplette Lieferkette ein – von den Rohstoffen bis zur Ware. Zudem ist eine Haftungsklausel vorgesehen, nach der Opfer leichter Zugang zu Gerichten haben. Auch ist ein Importverbot für Waren, die unter menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden, im Gespräch.
Derzeit wird der Kommissionsentwurf im Europäischen Parlament und Rat verhandelt. Während die Wirtschaft über den hohen Bürokratieaufwand stöhnt und Wettbewerbsverzerrungen befürchtet, geht es den Verfechtern von Umweltschutz und Menschenrechten nicht weit genug.
Greenpeace-Handelsexperte Jürgen Knirsch sagt: „Lieferkettengesetze gehen in die richtige Richtung, weil sie versuchen, die schlimmsten Auswüchse des Welthandels zu begrenzen, aber sie stellen seine Prinzipien nicht grundsätzlich in Frage.“ Krieg wie auch Pandemie hätten uns gezeigt, wie anfällig die globalen Lieferketten sind. Nun sei es Zeit, zu handeln: „Wir müssen den Welthandel vollkommen anders aufstellen, dafür braucht es einen radikalen Paradigmenwandel: Wirtschaftliche Erwägungen dürfen nicht mehr ausschlaggebend sein, sondern die Auswirkungen für Menschen, Arbeitsnormen, Klima und Umwelt müssen an erster Stelle stehen.”
Ein Weltmarkt, der durch Austausch und Fairness reguliert wird, ist ein utopischer Zukunftsblick. Genauso wie das Streben hin zu einem neuen Verständnis von Außenpolitik, wie es die Autorin Kristina Lunz fordert. Ginge es nach ihr, würden wir Krisen mit Verständigung und Inklusion lösen, statt mit Krieg und Aufrüstung. Autokratische Männer an der Spitze, die Aggression mit Stärke verwechseln, wären nur noch eine blasse Erinnerung vergangener Zeiten. Für das aktuelle Dilemma aber bleibt die nüchterne Erkenntnis: Maßnahmen wie Handelssanktionen können höchstens mittel- und langfristige Effekte haben. Den Krieg in der Ukraine stoppen sie nicht.
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Nora Kusche
Redakteurin
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