Liebe Leserinnen und Leser,

dieser Tage unterblieb so einiges: der endgültige Abschied von Öl und Gas auf dem 27. UN-Klimagipfel zum Beispiel, ebenso wie konkrete Verpflichtungen zum finanziellen Ausgleich für klimabedingte Schäden und Verluste in ärmeren Ländern durch die Verursacher oder zur Reduzierung von Treibhausgasen. Rationale, nachvollziehbare und halbwegs humane Entscheidungen beim neuen Twitter-Besitzer Elon Musk. Eine One-Love-Armbinde am Oberarm des deutschen Mannschaftskapitäns Manuel Neuer bei der Fi-Fa-Fußball-WM auf Geheiß jener korrupten und geldgierigen Bande, die den Weltfußball besitzt. Rückhaltlose Begeisterung für ebendiese WM. Die iranische Fußballmannschaft unterließ das Mitsingen bei der Nationalhymne und erntete viel Lob für ihre Haltung.

Derzeit ist wieder viel von „unseren westlichen Werten“ die Rede, denen bitte die ganze Welt umgehend zu folgen hat, weil wir sonst…äh…leider doch weiterhin allerlei Produkte, Rohstoffe und fossile Energien bei Diktatoren, Autokraten und Ausbeutern bestellen, denen wir andererseits gern auch unsere eigenen Erzeugnisse verkaufen, noch ein Viertelpfund kritische Infrastruktur drauflegen und das per Handschlag besiegeln. Was willst du schließlich auch machen, normative Kraft des Faktischen und so.

Faktisch ist es zweifellos richtig und geboten, die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen von Wanderarbeitern, die Unterdrückung von Frauen, Repressalien gegen ethnische Minderheiten und alles, was in irgendeiner Form queer zur herrschenden Sexualmoral steht, anzuprangern, aber wir sollten uns schon mal fragen, ob wir uns zu den Guten zählen dürfen. Wanderarbeiter und -arbeiterinnen hießen bei uns früher „Gastarbeiter“, hatten schwere und dreckige Arbeit zu verrichten und ansonsten nichts zu melden. Arbeitswillige schaffen es heute oft nicht einmal mehr bis nach Deutschland, weil sie vorher im Mittelmeer ertrinken oder in elenden Lagern im Nirgendwo stranden. Auch Arbeitskräfte aus EU-Ländern sind nicht auf Rosen gebettet, man denke an die Skandale um Unterbringung und Arbeitsbedingungen von Menschen aus Rumänien oder Bulgarien während der Corona-Pandemie, etwa in Schlachtbetrieben.

Frauen sind bei uns zwar laut Grundgesetz gleichberechtigt, aber der Gender Pay Gap existiert nach wie vor, in Firmenvorständen und Aufsichtsräten herrscht alles andere als Parität, und Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 ein Straftatbestand (die 138 Nein-Stimmen stammten von Abgeordneten aus CSU, CDU und FDP, übrigens auch von Friedrich Merz). Die Ehe für alle gibt es seit gerade mal fünf Jahren, und die LGBTQ-Community, aller Regenbogenfolklore zum Trotz, trifft längst nicht überall auf Toleranz. Im Gegenteil: Wer erkennbar dazugehört, muss mit gewalttätigen Übergriffen rechnen, die auch tödlich enden können. Rassismus und Antisemitismus gehören ebenso wenig einer finsteren Vergangenheit an, sondern sind traurige Gegenwart.

Das indiskutable und unsensible Verhalten von Politik, Ermittlern und Behörden im Fall Murat Kurnaz, gegenüber den Angehörigen der Opfer des NSU oder nach den Anschlägen von Hanau und Halle: keine bedauerlichen Einzelfälle, sondern deutsche Tradition. Wenn in Sonntagsreden immer wieder „unsere Werte“ beschworen werden, warum bittet dann niemand die Betroffenen offiziell und in aller Form um Verzeihung?

Wenn der Staat schon mal dabei ist, könnte er sich ruhig auch bei allen Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern entschuldigen, die Missstände in Unternehmen, Finanz- und Arbeitsämtern, Pflegeheimen und Apotheken öffentlich angeprangert haben und dafür nicht gelobt, sondern gemobbt, entlassen und psychisch zermürbt wurden. Da fällt mir ein: Wie wäre es denn mit Asyl für Edward Snowden, der nicht zum Vergnügen in Moskau hockt und die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, und Julian Assange, dem in den USA eine Haftstrafe von 175 Jahren droht?

Bleibenlassen mag ja mitunter ganz gut sein für die CO2-Bilanz (rasen, reisen, rödeln) und das Nervenkostüm, aber oft hilft nur entschlossenes Handeln. Besser spät als nie, aber noch besser früh genug. Denn, Sie wissen schon: unsere Werte. Gleichheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit. Solidarität, Empathie, Mut und Haltung.

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Unterschrift

Kerstin Eitner
Redakteurin