Um herauszufinden, wie es generell um das „grüne Gefühl“ der Deutschen bestellt ist, reiste unser Reporter Manuel Stark in den sächsischen Erzgebirgskreis und nach Freiburg, wo die Grünen 2017 ihr bundesweit jeweils schlechtestes und bestes Ergebnis einfuhren. Seine Erkenntnis: Nicht immer ist alles so grün, wie es scheint, aber manches grüner, als man denkt. Die Reportage erschien in der Ausgabe 5.21 des Greenpeace Magazins „Natürlich Wählen“
AUE - BAD SCHLEMA,
BUNDESTAGSWAHLKREIS 164
Früher hatte er 40.000 Kollegen und arbeitete im tiefsten Schacht Europas, heute kümmert sich Carsten Leheis um den Aufzug eines Schaubergwerks. Gemeinsam mit ein paar Kumpels hält er die Gänge frei von Schutt und prüft die Sicherheit im Stollen, damit am Wochenende drei, vier Dutzend Besucher pro Tag in 46 Meter Tiefe ein bisschen Bergmannsgefühl erleben können. „Da ist manchmal Geschrei und Gejauchze, wenn der Aufzug angeht. Schön, dass es das noch gibt, ein bisschen Tradition“, sagt Leheis. Er ist jemand, der sich freut, wenn andere sich für seine Vergangenheit begeistern. Er sei kein Früher-war-alles-besser-Mensch, sagt Leheis. Und doch klingt Stolz mit, wenn er von seiner Zeit als Maschinist erzählt.
Das Erzgebirge ist eine alte Bergbauregion, im Mittelalter wurden Silber und Zinn geschürft, später grub die DDR sich zum viertgrößten Uranproduzenten der Erde. Leuchtete der rote Stern über dem Verwaltungsgebäude der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut, wussten alle: Der Lieferplan in die UdSSR war erfüllt. Das Unternehmen dominierte alles, heute sammeln sich in der Region die meisten Handwerksbetriebe in Sachsen, Metallverarbeitung, kleine Zinngießereien, die Arbeitslosenquote liegt bei unter fünf Prozent. Wie in vielen ländlichen Regionen fehlt es im Erzgebirge weniger an Arbeit als an Jugend – jeder fünfte Bewohner bezieht Rente. Auch Leheis fehlen nur noch knapp drei Jahre bis zum Ruhestand. Seit 2019 sind Bad Schlema und Aue zur größten Stadt innerhalb des Bundestagswahlkreises 164 verbunden. Vor vier Jahren lieferten sich die Direktkandidaten von CDU und AfD im Erzgebirge ein knappes Rennen, das der Christdemokrat gewann. Die Grünen landeten bei 2,2 Prozent, so wenig wie nirgendwo sonst.
In Aues Innenstadt bröckelt Putz von leer stehenden Gebäuden, an den Fenstern kleben „Zu vermieten!“-Plakate, bei denen man ahnt, diese Nummer wird nie jemand wählen. In der Lokalzeitung geht es um fehlende Hausärzte und den kriselnden Einzelhandel. Die Mieten sind günstig, für sechs Euro pro Quadratmeter könnte man in manchen Orten des Erzgebirges prächtig wohnen. In Schneeberg, zehn Autominuten von Aue entfernt, wartet der Würstchengrill am Marktplatz in einem Jugendstilhaus auf Gäste.
Gerechnet wird hier in Autominuten, der öffentliche Nahverkehr ist nicht der Rede wert. „Je nach Linie fährt alle zwei bis drei Stunden mal was ins Nachbardorf“, erklärt Leheis, „wenn überhaupt. Mein rechtes Bein ist amputiert, da ist auch nix mit Fahrrad.“ An der DDR sei vieles schlecht gewesen, aber Busse seien stündlich gefahren. „Für den Arzt müssen viele zwei, drei Dörfer weit. Und dann kommen die Grünen und sagen, Benzinpreise hoch“, sagt Leheis. „Für Großstädter braucht man wohl solche Leute. Aber hier?“ Er zieht die Augenbrauen hoch. „Perspektiven bietet auf Bundesebene eigentlich keiner.“ Leheis klingt dabei eher enttäuscht als resigniert. „Das hier wird ein Freiluft-Altersheim. Das hab ich akzeptiert.“ Spricht man die Menschen in Aue und Bad Schlema auf die Bundestagswahl an, lautet die Antwort fast immer gleich: Sie ist egal.
„Die nächste Legislaturperiode ist entscheidend“, sagen dagegen Forscher der Leopoldina und warnen vor der Erderhitzung. Wenn sich beim Klimaschutz nichts ändert, sei das Leben auf der Erde bedroht. Anfang des Jahres fragten Meinungsforscher in fünfzig Ländern: Steht die Welt vor einem Klimanotstand? In Deutschland antworteten 77 Prozent mit Ja. „Klar muss man was machen“, sagt eine Frau Anfang 30. „Aber wer denn? Die Grünen sind zu weit weg. Denen geht’s auch nur um Macht.“ Gemeinsam mit drei Freunden sitzt sie am Samstagnachmittag unter einer Brücke im Zentrum von Aue und trinkt Kirschbier. Viele Plätze zum Hinsetzen gibt es hier nicht mehr, die Bänke im Park hat die Stadt abmontieren lassen. „Ein paar Ausländer“ hätten dort immer „Krawall gemacht“, behauptet die Frau. „Wenn man dann was sagt, ist man bei den Grünen ja sowieso gleich der Nazi.“ Die anderen nicken zustimmend. „Da hilft’s dann auch nichts, wenn die für saubere Flüsse und Natur sind. Ich bin ja auch Mitglied im Naturschutzbund. Aber ich wähle doch niemanden, der keine Ahnung von meinem Leben hat.“ Im Erzgebirgskreis haben weniger als zwei Prozent der Menschen keinen deutschen Pass.
Die reservierten Stellplätze für den Vorstand und die Sponsoren sind leer. Auf dem Übungsfeld steht ein Herr in fliederfarbenem Hemd und schlägt ein paar Bälle. Sein Alter, 71, nennt er, seinen Namen lieber nicht. „Da heißt es sonst gleich: Der macht mit seinem Golf die Landschaft kaputt.“ Dabei gebe es doch jetzt genug Natur hier. Er deutet auf die Fichten und Tannen der Hügelkuppen, die das Erzgebirge formen wie grüne Wellen, und zitiert Helmut Kohl: „Die blühenden Landschaften. Wir haben sie bekommen! Vor dreißig Jahren war hier alles Kloake.“
Naherholung
Hinter dem Golfplatz ragt noch immer der Wellblechturm eines alten Schacht- Eingangs auf. „Wismut“ steht dort unter dem grünen Firmenlogo. Der ehemalige Bergbau-Staatsbetrieb ist längst eine GmbH, beschäftigt etwa tausend Mitarbeiter und beseitigt seit dreißig Jahren die Schäden des Uranbergbaus. Halden werden abgetragen und planiert, radioaktives Material in Stollen eingelagert, die Brachflächen begrünt. Dass der Mensch die „blühenden Landschaften“ geschaffen hat, sieht man. Wie mit dem Lineal gezogen wechseln Fichten auf Tannen oder Buchen. Linienmuster ziehen sich durch die begrünten Hügel. „Die Leute, die Landschaft, alles hier ist Bergbau“, sagt der Golfer.
Am Rand von Bad Schlema liegt das Spielfeld des Fußballvereins, daneben ein doppelt so großer Parkplatz. Hier feiern Musiker und Fans jedes Jahr im September das größte Blasmusikfest der Welt. Direkt unter der Erde liegt der alte Schwemmteich – radioaktiver Schutt, zu gefährlich, um darauf zu bauen, ungefährlich genug, um einmal im Jahr darauf zu feiern. „Ein Mega-Event!“, schwärmt Uwe Haas. Der 58-Jährige ist Vorsitzender der Bergbrüderschaft Bad Schlema. Klingelt sein Telefon, tönt der Steigermarsch, die Hymne der Bergmänner. Seinen Verein gründete er, damit zu offiziellen Anlässen nicht immer Leute von außerhalb geholt werden müssen. „Bergleute sind hier bei jedem Empfang und jedem Amtsakt mit dabei“, sagt er. „Das ist Tradition.“
Für ihre Antwort auf die amerikanische Atombombe brauchten die Sowjets Uran und fanden es in der DDR. Wiesen wurden aufgerissen, Wälder gerodet. Häuser und Straßen stürzten ein. Überall klebten Schlamm und Staub. Alles war grau wie in einem Schwarz-Weiß-Film, die Lüftungsanlagen der Stollen brummten tags und nachts. „Durch den Bergbau ist schon auch viel Mist passiert“, sagt Haas. „Vom Westen gab es acht Milliarden, um das Gebiet zu sanieren. Das hat uns gerettet.“
Heute gilt Bad Schlema als Naherholungsgebiet, vor allem aus Dresden, Thüringen und Tschechien kommen Gäste. 2019 verzeichnete das Erzgebirge einen Besucherrekord, über drei Millionen Übernachtungen brachten mehr als achtzig Millionen Euro Steuereinnahmen. In Gästebüchern schwärmen Reisende von kleinen Bächen, bewaldeten Hügeln und vom Nebel, der sich am Morgen zwischen Baumspitzen verfängt. „Und manche Einheimische sind so doof und werfen ihren Müll in den Wald, weil sie zu faul sind, nach Chemnitz zum Verwertungshof zu fahren“, sagt Haas. „Dabei haben wir doch miterlebt, wie es hier war. Sogar Bäume wurden als Sondermüll verbrannt.“ Haas streckt seine Arme hilflos in die Luft. „Natur finden alle wunderbar, aber wir haben uns zu schnell an sie gewöhnt.“
Millionen Kubikmeter Halden musste das Erzgebirge nach der Wende sanieren, schwermetallhaltige Substanzen wie Mangan, Arsen oder Radon aus dem Wasser einer toten Landschaft filtern. Heute jagen Kormorane in den Seen nach Fischen. „Bei uns freuen sich darüber sogar die Angler“, sagt Haas. Natürlich sei er für Natur- und Umweltschutz. Nur den Grünen traue er nicht. „Die sind zu weit weg. Benzinpreise hoch, CO2-Steuern, da fehlt die Perspektive auf die Lebensrealität der Menschen.“
Da sei „schon was dran“, sagt Thomas Walther, bezieht das aber eher auf die Bundespolitik. Er ist einer von fünf grünen Räten im Kreistag. Seit der letzten Kommunalwahl stellen die Grünen dort zum ersten Mal eine Fraktion. Walther wohnt in Drebach, einem 2400 Einwohner kleinen Dorf mit evangelischer Kirche, umringt von Einfamilienhäusern. Er war weggezogen, um in Heidelberg beim Softwaregiganten SAP zu arbeiten. Vor zehn Jahren kam er zurück. Der Beruf war stressig, die Natur bot Erholung – hinter dem Grundstück seines Elternhauses liegen nur noch Wald und Acker. Heute arbeitet er für SAP als IT-Consultant von zu Hause aus.
Was soll die Spinnerei?
In der Einfahrt parkt ein roter Tesla, daneben hängt eine Ladestation. Solarpaneele sind auf dem Dach der Werkstatt und schräg an der Hauswand angebracht, weil sie auf dem mit Schiefer gedeckten Dach nicht halten. „Am Anfang haben die Leute schon geguckt“, erzählt Walther. Der 35-Jährige hat die Solarmodule und die Ladestation selbst gebaut. „Da wurden Scherze gemacht, was die Spinnerei soll.“
Von Anfang an zeigte er seine Abrechnungsbelege vor. „Die Leute haben gesehen: am Ende des Monats habe ich mehr auf dem Konto.“ Inzwischen gibt es im Dorf mehr als hundert Solaranlagen, eine neu gegründete Energiegenossenschaft installierte auf dem Schuldach und anderen öffentlichen Gebäuden weitere Paneele und errichtete im Kreis drei Ladesäulen für E-Autos. Die Nutzung verdoppelt sich von Jahr zu Jahr, an guten Wochenenden laden mehr als ein Dutzend Wagen. Walthers Solaranlage erwirtschaftet von März bis Oktober Überschüsse. „Nur bei Schnee bringt sie nichts.“ Doch Schnee, das merken hier alle, fällt von Jahr zu Jahr weniger. „Klimawandel bedeutet im Erzgebirge, ob es noch lohnt, den Skilift auf dem Fichtelberg zu erneuern“, sagt Walther.
Im Bundestagswahlkreis 164 gibt es Dutzende Menschen wie Walther, die den Wandel im Kleinen versuchen: Der Kulturverein Erzgebirge benannte sich 2019 in „Kultur und Natur“ um, seine Mitglieder treffen sich einmal im Monat, um den Müll aus dem Wald zu holen. Gemeinsam mit einem Partnerverein aus Tschechien organisieren sie Naturwanderungen, bei denen Ornithologen oder Botanikerinnen die Tier- und Pflanzenwelt erklären. Eine Gruppe junger Mütter hat den Wildbacher Kunst- und Sagenwald gegründet: Ein Trampelpfad führt zwischen Buchen, Eichen und Kiefern. Um ihn herum dürfen Kunstwerke entstehen, mit allem, was man im Wald so findet – von der Wurzel bis zur weggeworfenen Plastiktüte. So entsteht ein Steinmosaik neben einem Xylofon, darüber stoßen die hohlen Äste eines Windspiels aneinander. In die Rinde zu schneiden oder Äste abzubrechen, ist verboten.
FREIBURG
BUNDESTAGSWAHLKREIS 281
Im Erzgebirge zeigt sich das neue grüne Gefühl noch eher im Kleinen. 620 Kilometer weiter südwestlich, in Freiburg, gehören die Grünen dagegen längst zu den Großen. Mit 21,2 Prozent holten sie 2017 ihr bundesweit bestes Ergebnis. Bei den Landtagswahlen 2021 kamen sie in der Stadt Freiburg auf 42 Prozent, die AfD nicht mal auf fünf. Ein grüner Oberbürgermeister regierte hier schon vor zwanzig Jahren. In der Lokalpolitik sind die Hausarztversorgung oder fehlende Infrastruktur kein Thema. Der Gemeinderat diskutiert über Artenschutz, den Ausbau von Fernradwegen und ein besseres Carsharingkonzept. Drei Millionen Euro im Jahr investiert die Stadt in einen eigenen Klimaschutzfonds. Statt in kleinen Handwerksbetrieben verdient der Großteil der Menschen Geld in der Gesundheitsbranche, Freiburgs wichtigstem Wirtschaftsfaktor. Etwa jeder achte hier studiert, aber auch Arbeitgeber wie das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme und zahlreiche ökologische Vorzeigeunternehmen ziehen Menschen in die Region. Wer hier lebt, ist jung, 37 Jahre im Schnitt. Freiburg ist die am schnellsten wachsende Stadt in Baden-Württemberg.
Eine Behörde für Nachhaltigkeitsmanagement gibt es auch, unter anderem beschäftigt sie drei sogenannte Klimamanager. Eine von ihnen ist Ilaria De Altin, eine 53-jährige Italienerin. Sie unterstreicht jeden ihrer Sätze mit ausladenden Gesten, einer ihrer ersten lautet: „Man muss den Leuten Chancen geben, statt ständig weiter Angst zu schüren.“ De Altin hat ein Treffen in Waldsee vorgeschlagen, einer Einfamilienhaussiedlung. In den Einfahrten sieht man eher selten Autos, alle paar Meter radeln junge Familien vorbei, auch De Altin ist mit dem Fahrrad unterwegs. Die Stadt hat hier einen Fördertopf eingerichtet: Will ein Verein oder eine Person eine Aktion starten, erhalten sie Unterstützung – solange das Projekt das nachhaltige Leben verbessert. Ein Bienenhotel zum Beispiel oder ein Gemeinschaftsgarten. Auch Workshops: Was brauche ich für eine Solaranlage, und lohnt ein E-Auto? „Ich möchte, dass wir Räume öffnen. Die Leute müssen machen wollen. Sie zwingen hat keinen Sinn.“
In Waldsee probiert die Stadt ein Jahr lang beruhigte Zonen aus: Weniger Autostellplätze, mehr Spielstraßen. Im Sommer heizen sich Autos massiv auf, das verändert das Mikroklima. „Dazu die Abgase. Das wegzuhaben, verbessert die Lebensqualität.“ Natürlich gebe es auch Widerstand, gerade an ihren Autos hängen die Deutschen nun einmal besonders. „Ist wie in Italien“, sagt De Altin. „Völlig irre!“
Urbanes Dorf
Vauban, ein anderes Viertel von Freiburg, zeigt, wie städtische Anstöße wirken können: Das Grün in den Gärten explodiert, es duften zu viele Blumen, um sie alle zu bestimmen. Mieter und Wohnungseigentümer verzichten auf Parkplätze, um Gemeinschaftsgärten einzurichten. Dort ziehen sie Karotten, Salate, Kräuter. Unter einem Weidenpavillon finden Kulturveranstaltungen statt: Yoga, Gymnastik, Kleinkonzert. Ein paar Minuten Fußweg entfernt liegen Cafés, Bioladen, Eisdiele und Haltestellen von Bus- und Straßenbahn. Hier trifft Großstadtvorteil auf Du-Attitüde und Landlust-Charme.
Das ist beliebt. Und teuer: In Freiburg zahlen Mieter mehr als doppelt so viel wie im Erzgebirge, etwa 16 Euro pro Quadratmeter. Bezahlbarer Wohnraum ist knapp. Also soll auch hier gebaut werden, am liebsten im Grünen. Und so streitet die Ratsfraktion der Öko-Partei mit Naturschutzverbänden um das 125 Hektar große Dietenbach-Gebiet. Dort verläuft ein Fluss zwischen den Feldern, die Luft summt vor Insekten. Ein Rotmilan gleitet durch die Luft, am Boden schütteln sechs Störche ihr Gefieder aus. Wo Wiese und Felder enden, beginnt ein kleiner Wald. Die Besitzer haben ihn seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet, er darf verwildern. Moos bedeckt Baumstümpfe und gebrochene Äste, wer sich auf den Trampelpfaden bewegt, riecht verwittertes Holz.
Die Felder sollen weg, 6900 „dringend benötigte Wohneinheiten“ will die Stadt hier bauen. Dafür muss der Fluss umgeleitet werden – Hochwasserschutz. Und auch der Wald stört. Aber alles kein Problem, es gebe Ausgleichsflächen, sagen die Gemeinderäte von SPD und Grünen. Sehr wohl ein Problem, sagen junge Aktivisten und besetzen den Wald mit Baumhäusern.
Ab wann ist ein Baum ein Baum? Der Specht braucht Totholz, um seine Höhlen zu bauen, junge Triebe helfen ihm nicht. Der Neuntöter liebt den Übergang von Strauchwerk und Wald zu offener Landschaft, wenn Äcker und Wald schwinden, vergeht auch er. Dazu gibt es Würmer, Käfer, andere Vögel – sie alle sind angewiesen auf ihre Nischen. Aber der Mensch will wohnen. Und weil Freiburg weiter grünes Vorbild sein will, soll ein besonderes Viertel entstehen: Viel Solar, dazu Passivhäuser oder gar Plus-Energie – der ganze Stadtteil klimaneutral.
Martin Linser ist einer der Landwirte, die Flächen verlieren werden. Wenige Hektar nur, die bekommt er dafür woanders ersetzt. Das Problem: Für dieses Woanders hält bisher ein Landwirt die Pacht. Irgendein Bauer verliert also Land, so oder so. „Die Leute wünschen sich regionale Produkte. Aber wie soll das klappen, wenn man immer mehr Flächen wegnimmt?“, fragt Linser. Wer nicht verkauft, dem droht Enteignung. „Freiburg setzt auf Leuchtturmprojekte und gewinnt damit Preise. Aber links und rechts geht viel kaputt.“ Linser profitiert vom Ausgleich, er verliert Wiese und bekommt Weinlage. Auf Wein ist er spezialisiert. Von seinem Hof blickt man über Rebstöcke auf geschwungene Hügel, die am Horizont zu Bergen werden. Linser ist CDU-Mitglied, trotzdem ruft er die Grünen im Gemeinderat an, wenn die über einen neuen Agrarantrag debattieren. Er will Praxiswissen einbringen. Meistens ist er willkommen.
„Wir reden nur noch in Fronten von Schwarz und Weiß. Aber es gibt doch ein Dazwischen“, sagt er und führt auf seinen Weinberg. Zwischen den Reben wachsen Gras und Blumen, nur ein wenige Zentimeter schmaler Streifen ist erdbraun. „Da spritze ich. Nie mehr als nötig, aber bei dem feuchten Frühling geht es nicht ganz ohne.“ Bio versus konventionelle Landwirtschaft, das sei Unsinn. „Es gibt Unterschiede, wie ich konventionell arbeite.“ Er spritze lieber zwölf Mittel, punktgenau gegen zwölf Schädlinge, als drei, die wie Hammerschläge wirken. Während er erzählt, fliegt ein Bienenfresser über seine Äcker. Linser schaut ihm kurz nach.
Die Menschen in den Baumhäusern wissen: Das Leuchtturmprojekt Dietenbach werden sie nicht verhindern. Wollen sie auch nicht. „Die Position wird uns von den Grünen in Zeitungsinterviews untergeschoben“, sagt eine junge Frau, die – wie alle hier – unerkannt bleiben will. Die meisten sind Mitte, Ende zwanzig, ein paar von ihnen studieren, andere arbeiten im Handwerk. „Wir müssen bauen. Uns geht’s um das Wie.“ Weniger Waldfläche zu roden, lautet eine der Forderungen, mindestens die Hälfte der Häuser für soziales Wohnen zu reservieren, eine andere. In Vauban, dem ökologischen Vorzeigeviertel der Stadt, liegen die Kaltmieten teilweise bei zwanzig Euro pro Quadratmeter. Ausgerechnet zwischen den Baumhäusern heißt es über die Grünen: „Die sind viel zu weit weg von den normalen Leuten. Denen fehlt Bezug zur Lebensrealität.“
Wie es besser ginge? Mehr Hochhäuser! Man muss nach oben, wenn es in der Breite nicht reicht. Wie hässlich!, sagen die Gegner. Immer wieder schauen Spaziergänger und Fahrradfahrerinnen bei den Baumhäusern vorbei, um zu diskutieren, darunter viele Lehrerinnen, Richter oder Stadtplanerinnen – ihnen geht es gut in der Großstadt mit dem Dorfgefühl. Und so soll es auch bleiben.
Diesen Artikel finden Sie in der Ausgabe des Greenpeace Magazins 5.21 „Wahl“. In dieser Ausgabe streiten wir über die Grenzen der parlamentarischen Demokratie, begleiten Parteipioniere im Klimawahlkampf und organisieren schon mal Mehrheiten für ein Sofortprogramm nach der Wahl. Kreuzen Sie „Ja“ an und kommen Sie mit! Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!