Am Anfang ist da nur Stille. Dann dringt ein Geräusch aus der Biberburg, fast nicht wahrnehmbar, ein kurzes Taptaptap, als würde da jemand ein Stück Holz bearbeiten. Berit Arendt grinst. Sie hebt den Daumen. Die Biber sind zu Hause. „Männchen, Weibchen und zwei oder drei Junge“, flüstert die Rangerin. Biberpaare bleiben lebenslang zusammen, Junge verlassen nach zwei Jahren das Elternhaus, dann müssen sie sich ein eigenes Revier suchen.
Eine Stunde vergeht. Wer Biber sehen will, muss warten, leise sein, reglos im bauchtiefen Fluss stehen, hier im Naturschutzgebiet im bayerischen Spessart. In der Ferne gurgelt es am Damm, den die Biber 500 Meter flussabwärts errichtet haben, Nacht für Nacht aus Zweigen und Ästen, abgedichtet mit Steinen und Schlamm. Mit Glück werden sich die Biber an diesem Abend noch zeigen. Wenn sie sich nicht durch den zweiten Ausgang aus ihrer Burg stehlen. Oder einfach vorbeitauchen, schließlich können sie 15 Minuten lang die Luft anhalten.
Der Biber ist ein Egoist. Was er tut, tut er nur für sich. Biber stauen das Wasser, um den unterirdischen Tunnel zu fluten, der aus ihrer Burg in den Fluss führt. So können keine Füchse oder Dachse eindringen. Biber möchten so wenig wie möglich an Land unterwegs sein. Um dennoch ihre Nahrung, also Gras, Sträucher, Büsche oder Baumrinde zu erreichen, setzen sie den Weg dorthin unter Wasser. Mit ihren starken Krallen können Biber Tunnel und bis zu hundert Meter lange Kanäle graben. Diese nutzen sie als Wasserstraßen oder um das Wasser in fernere Gebiete zu leiten.
Was der Biber nicht weiß und was ihn wohl auch nicht schert: dass er aufgrund seiner Bautätigkeit ein Schlüsseltier ist, ein „Ökosystemingenieur“. Denn dort, wo sich das Wasser sammelt, sammelt sich das Leben. Der Biber ist ein Artenvielfaltsstarter, ihm folgen viele Tiere und Pflanzen, von klein bis groß.
Dafür muss er zuerst zerstören, kompromisslos. Er fällt Bäume, errichtet Barrikaden, schafft Chaos. Wo das Wasser hinfließt, sterben Bäume, Gräser und Blumen. Doch andere Arten kommen hinzu und nutzen den neuen Platz und die neuen Möglichkeiten. So hält er den Kreislauf des Lebens in Gang. „Der Biber ist ein Vollzeit-Naturschützer, und das in einer Zeit, in der die Arten schwinden“, sagt Arendt.
Berit Arendt wiederum ist Vollzeit-Biberfan. Auf der Innenseite ihres rechten Arms trägt sie ein Biber-Tattoo, auf ihrem Auto prangt ein Biberaufkleber, in ihrem Garten stehen zwei kleine Biberstatuen. Sie besucht Biberkonferenzen, liest Fachbücher, hört Vorträge im Internet, versteckt Wildtierkameras, legt sich für Fotos auf die Lauer. Die schönsten Biberbilder hängen eingerahmt an ihren Wänden.
15 Jahre muss es her sein. Arendt ging abends am Fluss nahe ihres Dorfes spazieren, da entdeckte sie ihre erste Biberburg. Seitdem drängt es sie, immer wieder rauszufahren, sich ans Ufer zu setzen und auf ihre Biber zu warten. „Diese Tiere faszinieren mich. Die Ruhe und Gelassenheit, die sie ausstrahlen. Diese Augen, die einen so unbeweglich anschauen, wenn sie auf einen zuschwimmen.“
Dann, vor zwei Jahren, wurde Berit Arendt hauptamtliche Bibermanagerin für Nordbayern. Sie zeigt Schulklassen die abgenagten Stämme, bildet Biberberater aus und wird bei Konflikten gerufen. Schimpfen Leute auf den Biber, hört sie zu. Dann hilft sie. Wie bei diesem einen Grundstücksbesitzer, dessen Garten direkt an einem Biberfluss liegt. Die Tiere entdeckten die Apfelbäume dort und nagten sich durch den Holzzaun. Arendt löste das Problem mit Schutzdraht. In einem anderen Fall beklagte sich ein Schäfer, dass seine Wiesen unter Wasser stehen. Arendt entfernte ein paar Zentimeter vom Biberdamm, das Wasser floss ab, die Wiese lag wieder frei.
Einmal fand sie einen ausgehungerten Biber am Straßenrand. Seine beiden unteren Nagezähne waren schief nach oben gewachsen und stachen ihm schon in das Wangenfleisch. Arendt fing ihn, informierte die Naturschutzbehörde, brachte das Tier zu einem Jäger, der es erlöste. Dann waren da die zwei Biberjungen, deren Eltern überfahren worden waren. Sie nahm sie bei sich auf, baute ihnen in ihrem alten Stall eine Höhle, stellte eine flache Wanne mit Wasser hin, brachte ihnen jeden Tag frische Blätter und Holz. Dabei achtete sie aber darauf, dass die beiden sich nicht an sie gewöhnten. Eines der Jungen kam durch, bis Arendt es aussetzten konnte. „Wohlgenährt und mit vor Öl glänzendem Fell“, sagt sie – mit Stolz in der Stimme. Biber schmieren ihr Fell mit einem öligen Analsekret ein, dadurch wird es wasserabweisend. Je öliger das Fell, umso besser geht es ihnen.
Es ist ein kleines Wunder, dass die Biber überhaupt wieder da sind – und bauen dürfen. Hundert Millionen von ihnen lebten einst in Europa. Sie gestalteten Flusslandschaften, bauten ihre Dämme, überfluteten Wiesen und Wälder, schufen ganze Auen und Moore. Sorgten für Tod und Erneuerung.
Der älteste Biberknochenfund ist 15 Millionen Jahre alt, der älteste Menschenknochenfund nur 430.000 Jahre. Biber wurden gejagt, wegen ihres dichten, weichen Fells – 23.000 Haare pro Quadratzent imeter –, wegen ihres Fleisches und wegen ihres Bibergeils, eines Sekrets, das sie in kleinen Beuteln unterm Schambein produzieren. Männchen wie Weibchen markieren damit ihr Territorium. Menschen machten daraus Drogen, Heilmittel oder Geschmacksverstärker. Im 19. Jahrhundert war der Biber in Europa nahezu ausgerottet, bis auf ein paar letzte Populationen.
Mit 120 Bibern in Bayern ging es wieder los, als Naturschützende ihn in den Siebzigerjahren wieder ansiedelten. Heute gibt es nach Schätzungen bis zu 30.000 Exemplare in Deutschland, aber nur in Bayern gelten sie als ungefährdet, in Rheinland-Pfalz oder Niedersachsen noch als ausgestorben. Biber dürfen nicht gejagt, ihr Fleisch und ihr Fell nicht verkauft, ihre Burgen und Dämme nicht zerstört werden – laut Bundesnaturschutzgesetz.
Doch es gibt Ausnahmen. Berit Arendt erzählt, wie sie zu einem Fischteichbesitzer gerufen wurde. Biber hatten einen Tunnel gegraben, das Wasser war abgelaufen, die Zuchtfische verendet. „In so einem Fall wiegt der wirtschaftliche Schaden schwerer als der Artenschutz“, sagt sie. Die Biber wurden getötet.
Streng, modrig, so weht es jetzt von der Biberburg herüber. „Die Tiere werden aktiv“, flüstert Arendt. „Vielleicht kommen sie bald raus.“ Doch nichts passiert. Eine weitere Stunde vergeht. Oft genug stapft Arendt aus dem Wald wieder nach Hause – ohne einen Schatten erhascht zu haben. Biber sind nachtaktiv, was heißen kann, dass sie sich erst um zwei Uhr oder um fünf Uhr morgens blicken lassen. Wenn überhaupt. In der Wathose läuft der Schweiß. Mückenschwärme tanzen über dem Wasser. Fledermäuse stoßen herab. Kleine Forellen katapultieren sich aus dem Wasser. Die ersten Frösche quaken. Nur in der Biberburg bleibt es still.
Wie ein achtlos hingeworfener Haufen Äste sieht das Gebilde auf den ersten Blick aus. Schaut man genauer hin, entdeckt man aufgehäuften Schlamm als Dichtmaterial, Steine zum Beschweren und sorgfältig ineinandergehakte Stöcke. Im Inneren befindet sich eine rund einen Meter breite und einen halben Meter hohe Höhle. Ihr Boden ist mit abgenagten Holzspänen ausgelegt. Hier schlafen die Biber, putzen sich gegenseitig, säugen ihre Jungen.
Arendt zeigt auf eine Stelle im Fluss. Eine Kette winziger Luftblasen perlt nach oben. Dann schieben sich Wasserwellen vorwärts, Meter um Meter. Im dunklen Grün des Flusses zeichnet sich ein Schatten ab. Ein Biber. Groß ist er. Inklusive der Kelle mehr als einen Meter. Er taucht vorbei, biegt nach rechts in einen Biberkanal. Das Wasser glättet sich wieder. Die dritte Stunde Warten bricht an.
Leuten, die sich über die toten Bäume be schweren und die Unordnung, die Biber verursachen, sagt Arendt: So läuft das eben in der Natur. Überhaupt, Unordnung? Vielmehr sind es Biotope auf kleinstem Raum. Wildnis-Spots, in denen Pflanzen wie Rohrkolben, Wasserschierling, Sumpfkresse oder Mädesüß wachsen. Laut Feldstudien ist die Pflanzenvielfalt in Biberrevieren um 76 Prozent größer als in biberlosen Flussgebieten. Das viele Totholz bietet Lebensraum für Insekten, Pilze und Kleinstlebewesen. Arendt deutet auf die vielen Blauflügel-Prachtlibellen, die vor einem Biberdamm auf und ab schwirren oder auf Ästen pausieren. „Libellen lieben Biberdämme“, sagt sie. Sie laichen in den seichten Gräben, viel Beute wie Fliegen, Mücken und andere Insekten gibt es auch. Eine andere Libelle, größer, grüner, fliegt systematisch das Wasser ab. Es ist die in Europa einst stark ge fährdete Grüne Flussjungfer. Sie braucht sauberes Flusswasser. Auch ihr hilft der Biber: Seine Dämme reinigen das Wasser, beim Fließen durchs Astgeflecht steigt der Sauerstoffgehalt, Schwebstoffe bleiben hängen.
Zahllose Käfer, Schmetterlinge und Heuschrecken leben im Biberrevier. Als Berit Arendt die Wiese für den Schäfer wieder trockenlegen musste, fand sie Tausende winzige Köcherfliegenlarven in ihren aus Steinchen zusammengeklebten Hülsen und viele kleine Fische, die nun auf dem Trockenen zappelten. „Das hat mir so leidgetan“, sagt sie. Mit bloßen Händen sammelte sie Larven und Fische ein und warf sie zurück in den Fluss. Grasfrösche, Erdkröten, gefährdete Laubfrösche und andere Amphibien finden im Biberteich ideale Laichbedingungen. Und all die Insekten, Frösche, Schlangen, Salamander und Fische locken wiederum größere Tiere an. „Einmal habe ich sogar einen der sehr seltenen Schwarzstörche gesehen, der auf der Wiese nach Beute suchte“, sagt Arendt.
Biber sind nicht nur Artenschützer, sondern auch Wasserbewahrer – wenn man sie lässt. Wildtierökologe Thomas Kaphegyi untersucht, welchen Einfluss Biber auf den natürlichen Wasserhaushalt haben können. „In Zeiten von Dürre und Hitze ist das, was der Biber macht, sehr wichtig“, sagt er. Die Dämme halten das Flusswasser in der Fläche. Dadurch steigt das Grundwasser, wovon der Wald profitiert. Kaphegyi erforscht auch, ob die Biber bei der Wiedervernässung von Mooren helfen könnten. „Zwar kann man nicht steuern, was der Biber als Nächstes baut. Dafür ist seine Arbeit nachhaltiger, effektiver und kosten günstiger, als wenn der Mensch künstliche Dämme anlegt. Biber können einen Großteil zur Wiedervernässung beitragen.“
Plötzlich zeigt er sich. Ohne Vorwarnung durchbricht sein Kopf die Wasseroberfläche. Aufgeregt weist Berit Arendt auf die Stelle. Der Biber bleibt gelassen, sondiert die Umgebung und hält Ausschau nach Gefahren. Dann schwimmt er los. Langsam bewegt sich sein Kopf durch das Wasser. Augen, Nase, Ohren lugen heraus. Er hält auf Arendt zu, schwimmt an ihr vorbei, dreht eine Runde um sie herum. Dabei lässt er sich Zeit, als wollte er bewundert werden. Er streckt seinen Rücken aus dem Wasser. Mächtig wirkt er und schön. Dann schlägt er mit der Kelle auf das Wasser und taucht ab. Was für ein Glück.
Diese Reportage erschien in der Ausgabe 5.22 „Artenvielfalt“. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!