Das Dorf Pödelwitz südlich von Leipzig war totgesagt. Wie Hunderte Dörfer vor ihm sollte es der Braunkohle weichen. Dann geschah das Unerwartete: Pödelwitz wurde gerettet! Ende gut, alles gut? Nein. Das Gros der Menschen ist längst weg, die meisten Häuser gehören dem Bergbaukonzern. Und nun? Träumt der Ort trotzdem von einer Zukunft als Öko-Modelldorf. Unsere Autorin Nora Kusche begleitet Pödelwitz in einer neuen Serie. Den ersten Teil lesen Sie in der Ausgabe 6.21 „Yes She Can" des Greenpeace Magazins und an dieser Stelle
Auf der Fahrt nach Pödelwitz mischen sich Wiesengrün und Klatschmohnrot mit dem Blütenweiß der Wilden Möhre. Bunte Farben ziehen am Autofenster vorbei. Der Fixpunkt sind die Kühltürme des Kraftwerks Lippendorf, die weiße Puffwolken ausstoßen. Egal, wo auf der Landstraße man sich befindet, schweben sie wie eine Fata Morgana über dem Horizont. „Wolkenmaschine“ sagen die Leute hier im Leipziger Südraum dazu. Fast idyllisch wirkt das Bergbaurevier. In Wahrheit ist das Kraftwerk ein kohleverschlingendes Monster und die Idylle endet abrupt.
Ein Loch klafft in der Landschaft, Teil des Braunkohletagebaus „Vereinigtes Schleenhain“ – eine riesige Grube, vier Quadratkilometer groß, von Schienen durchzogen und von Baggern besetzt. Am anderen Ufer stehen Bäume, aus deren Wipfeln ein Kirchturm ragt: Er gehört zu Pödelwitz. Fast sieht es so aus, als fehlte nur ein Ruckeln und der kleine Ort am Rand der Grube würde hineinplumpsen, einfach so.
Wer der Landstraße am Abgrund entlang folgt, erreicht bald das Ortsschild von Pödelwitz. Häuser und Vierseitenhöfe mit kleinen Vorgärten liegen da an der menschenleeren Straße. Sie schlängelt sich durch den Ort, vorbei am ehemaligen Wirtshaus, das schon zerfällt, einem Spielplatz ohne Kinder und dem stillgelegten Bahnhof, an dem niemand wartet.
Am Dorfplatz zwischen Gasthausruine und Bushaltestelle zerreißt eine Stimme die Stille. Jens Hausner, der Sprecher der Bürgerinitiative Pro Pödelwitz redet über sein Lieblingsthema: Wie er aus Pödelwitz mit seinen verbleibenden dreizehn Familien und vielen Zuziehwilligen wieder eine intakte lebendige Dorfgemeinschaft machen will. Hausner ist Mitte fünfzig, mittelgroß, funktional gekleidet – unauffällig. Doch wenn er über seine Vision für den Ort spricht, röten sich seine Wangen.
An seinen Lippen hängt ein junger Mann mit konzentriertem Blick und langem Haar, der mit seinem Rad die gut zwanzig Kilometer aus Leipzig gekommen ist. Wie viele andere will er mithelfen, aus Pödelwitz etwas Besonderes zu machen: ein energieautarkes ökologisches Modelldorf mit Solidarischer Landwirtschaft, innovativem Verkehrskonzept und sozialer Infrastruktur – eine Symbiose aus dem Besten von Vergangenheit und Zukunft. „Wir haben einen Plan“, sagt Hausner. „Jetzt müssen nur die Kommune und die Mibrag mitspielen. Das wird wahrscheinlich noch schwieriger, als das Dorf vor den Kohlebaggern zu retten.“
Wie das Nichts aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ frisst der Bergbau sich scheinbar unaufhaltsam noch immer durch ganze Regionen. Doch fast wie die Hauptfiguren des Romans haben sich einige Familien in Pödelwitz mit Mut und Fantasie dem Verschwinden entgegengestellt. Und anders als die allermeisten vor ihnen hatten sie Erfolg.
Warum gerade Pödelwitz? Vielleicht lag es daran, dass sich die Klimakrise angesichts von Dürresommern, Waldbränden und Flutkatastrophen nicht mehr länger ignorieren lässt. Vielleicht daran, dass sich das Geschäft mit dem sogenannten Grubengold in Zeiten steigender CO2-Preise immer weniger lohnt. Oder daran, dass in Sachsen seit 2019 erstmals die Grünen mitregieren. Vielleicht zeigt der Fall Pödelwitz auch, dass der Wind sich dreht. Nicht das Dorf über der Kohle, sondern die Kohleindustrie ist dem Tode geweiht.
Sicher ist: Die Menschen in Pödelwitz haben sich vernetzt und plötzlich immer mehr Wind unter den Flügeln gespürt. 2016 gründeten sie das Bündnis „Pödelwitz bleibt!“, das mittlerweile „Alle Dörfer bleiben!“ heißt und bis ins Rheinland reicht. Bei zwei Klimacamps 2018 und 2019 schlugen Aktivistinnen aus dem Hambacher Wald und Vertreter der Klimagerechtigkeitsbewegung ihre Zelte im Dorf auf. „Wir wollten nur unsere Heimat retten – und sind dabei wichtiger Teil der globalen Klimabewegung geworden“, sagt Jens Hausner über diese Zeit.
Der ehemalige Landwirt ist mittlerweile so etwas wie das Aushängeschild des Dorfes. „Jens kann sprechen, ohne Luft zu holen“, sagt ein Nachbar. Allerdings ist Hausner nur gesprächig, wenn es um die politische Agenda der Dorfinitiative geht, seine persönliche Geschichte spart er aus. „Wir mussten irgendwo Grenzen ziehen, um den Kampf so lange Zeit durchzustehen“, sagt er, der ursprünglich aus Böhlen stammt, fünfzehn Autominuten von hier. Nach Pödelwitz hat er eingeheiratet, er lebt mit seiner Frau in einem dreihundert Jahre alten Hof am Ortseingang. Noch nicht einmal wie lange er schon Pödelwitzer ist, möchte er hier lesen. „Das spielt doch keine Rolle“, sagt er und winkt ab.
Nur einmal gibt Hausner etwas von sich preis, und zwar als er über den Kampf der vergangenen Jahre spricht. „Als sich 2016 die großen Umweltverbände wie BUND und Greenpeace hinter uns gestellt haben und klar war, wir sind nicht mehr alleine im Kampf gegen das Kohleunternehmen, das war ein ganz besonderer Moment“, sagt er, und seine Augen, zwischen Mütze und Maske, werden feucht.
Das Traumdorf der Zukunft
Wenn man mit Jens Hausner durch den Ort geht, hallt seine Stimme in den leeren Straßen wider. Und während er von seinen Hoffnungen auf einen Neuanfang erzählt, beginnt man zu sehen, was sein könnte. Wie Putz die Risse im Mauerwerk des alten Wirtshauses schließt und neue Lampen es wieder als Treffpunkt erstrahlen lassen. Wie die wuchernden Pflanzen vom Nachbargrundstück verschwinden und ein Weg entsteht, auf dem die Menschen zu einem Hofladen gehen und lokale Produkte aus Solidarischer Landwirtschaft in ihre Körbe und Jutebeutel füllen. Oder wie das ganze Dorf zu Festen zusammenkommt und Stimmengewirr, der Klang von Geselligkeit bis in die letzten Gassen dringt.
Diese letzte Szene wird kurz darauf Realität – wenn auch nur für einen Tag. Mal sonnig, mal bewölkt und ein bisschen schwül ist es Mitte Juli, als die Kirchengemeinde Groitzsch zum Fest geladen hat. Jedes Jahr treffen sich die Kirchenmitglieder in einer der sechs Gemeindekirchen, dieses Mal hat Pfarrerin Friederike Kaltofen Pödelwitz auserkoren: Die Gemeinde will sich bei all jenen bedanken, die um das Dorf gekämpft haben.
Zum Gottesdienst ist die Kirche voll, etwa fünfzig Leute mit Masken sitzen auf den engen Bänken. Weißhaarige Damen mit rosa Blusen, Männer mit Dutt und Blümchenhemden und junge Frauen in schwarzen Kapuzenpullis sitzen beisammen. „Ein bunteres Publikum als sonst“, merkt Pfarrerin Kaltofen an und strahlt. Seit 2014 ist die Enddreißigerin für die Gemeinde Groitzsch zuständig und hat sich von Beginn an für den Erhalt von Pödelwitz engagiert. Die Rettung ist auch ihr Erfolg. Die Tür zur Kirche steht offen, sodass der Klang der Orgel in den Garten dringt, wo weitere zwanzig Leute auf Plastikstühlen und Holzbänken sitzen.
Als die Orgel verklingt, erinnern Aktive aus Dorf, Politik und Umweltbewegung an den Widerstand. Die Stimmung ist verschwörerisch bis euphorisch. Hier sind sich alle einig: Das Gute hat gesiegt. Auch Karsten Smid von Greenpeace ist heute da. Als er erzählt, wie er und Mitstreitende nach einer Pflanzung von tausend Osterglocken noch etwas länger in Pödelwitz blieben und „zufällig einen Betonmischer dabeihatten“, schallt Gelächter durch das Kirchenschiff.
Gemeint ist eine Aktion vor vier Jahren, als Aktivistinnen und Aktivisten Löcher stopften, die das Kohleunternehmen in die Mauern verlassener Häuser gerissen hatte. „Die von der Mibrag gerufenen Polizeikräfte und das LKA waren etwas ratlos, was sie uns vorwerfen sollten. Schließlich hatten wir nur Löcher in denkmalgeschützten Fachwerkhäusern geschlossen“, sagt Smid. Nach dem Gottesdienst schlendert er an einem der Gebäude vorbei, um seine Sanierungsarbeit zu inspizieren. „Das ist noch genau so, wie wir es hinterlassen haben“, sagt er und grinst.
Beim Sektempfang vor dem Gemeindehaus brennt die Sonne auf den asphaltierten Vorplatz. Auf dem Basketballkorb steht: „Der Kohle einen Korb geben“. Gegenüber hängt ein Plakat mit Anti-Kohle-Sprüchen. Pödelwitz liegt mitten im Tagebaugebiet, niemand hier wird das vergessen. Doch das Endzeitgefühl ist Vergangenheit. Kinder malen mit Kreide auf die Straße, Jugendliche spielen mit Wurfhölzern. Lacher und Juchzer hallen mit dem Klacken der Stäbe durch die Luft.
Die erwachsenen Gemeindemitglieder haben es sich auf Bänken gemütlich gemacht und essen Kuchen, die meisten geladenen Gäste umringen Stehtische und halten sich an ihren Sektgläsern fest. Zwischen diesen Gruppen wechselt eine junge Frau, sorgfältig geschminkt und mit akkurat blondierten Haaren, hin und her. Sie blickt sich um, lächelt hier und dort jemanden an und folgt den meisten Gesprächen eher beiläufig.
Franziska Knaur ist die Stieftochter von Jens Hausner. In Pödelwitz aufgewachsen und dann nach Leipzig gezogen, hat sie ihre verloren geglaubte Heimat wiederentdeckt: Sie will zurückkommen und mit ihrem Freund die Scheune des elterlichen Bauernhofs ausbauen. Für Knaur ist Pödelwitz vom Vergangenheitstrauma zum Zukunftstraum geworden.
Vom Abrissprojekt zur Premiumlage
„Mit Anfang zwanzig war ich noch nicht politisch interessiert“, erzählt Knaur. „Aber dann habe ich die Gründungsphase von ,Alle Dörfer bleiben!‘ mitbekommen, war bei den Klimacamps und fand das eine coole Sache: so viele junge Menschen von überall, aus der ganzen Welt, die sich auf einmal für mein kleines Heimatdorf interessieren.“
Die Endzwanzigerin ist im Vorstand des neu gegründeten Vereins „Pödelwitz hat Zukunft“, der das Konzept eines nachhaltigen und ökologischen Modelldorfes ausarbeiten und politisch durchsetzen will. Dafür muss sie mit der Kommune und der Mibrag, als Eigentümerin der verlassenen Häuser, einen Plan erarbeiten, wie es mit dem Ort weitergehen soll. Dass die Dorfentwicklung eher Jahre als Monate dauern wird, ist Knaur klar: „Wenn es nach uns ginge, hätten wir bis Ende des Jahres keinen Leerstand mehr im Ort“, sagt sie. „Leider sind wir nicht diejenigen, die am Ende ihr Okay geben müssen.“
Aber bei einzelnen Projekten könnte es auch schneller gehen. Thilo Kraneis steht ein Stück abseits und beobachtet das festliche Treiben eher still. Der kräftige Mann mit der ärmellosen Weste ist Metallbauer und lebt mit seiner Frau und seinem autistischen Sohn im Ort. In einem leer stehenden Gebäudekomplex, ein paar Schritte die Straße hoch, plant er ein Autismuszentrum „mit allem Drum und Dran“, wie er sagt. Wohngruppen für etwa 16 Menschen, Unterkünfte für Betreuende und Räume für Therapie und Beschäftigungsmöglichkeiten will er einrichten.
Als Jens Hausner einen Apfelbaum neben das Gemeindehaus pflanzt, eilt Kraneis zu Hilfe und rammt die Schaufel in den Boden. Jemand ruft nach Whisky. Whisky gibt es nicht, aber ein Mann mit Bierflasche tritt beherzt nach vorne und gießt einen Schwall in die aufgewühlte Erde. Die Stimmung auf dem Fest kippt ins Ausgelassene, Umstehende kichern. Die Anspannung der vergangenen Jahre schwingt noch mit. Aber langsam macht sie einem Gefühl der Erleichterung Platz. Aus Anspannung wird Überschwang.
Doch auch der längste Sommertag geht einmal zu Ende. Pödelwitz mag den Baggern entronnen sein, wiederbelebt ist es noch nicht. Solange etwa achtzig Prozent der Häuser im Besitz der Mibrag sind, ist die Zukunft des Dorfes ungewiss. „Was aus den Plänen der Pödelwitzer wird, steht und fällt auch mit dem Eigentum an den Gebäuden und Grundstücken“, sagt Maik Kunze am Telefon. Der Bürgermeister der Stadt Groitzsch freut sich über den Plan von Thilo Kraneis: „So ein soziales Projekt, das Arbeitsplätze und Betreuungsangebote schafft, würde gut funktionieren.“
Spricht man Jens Hausner auf dieses Thema an, ist seine Antwort verhalten: „Meine Angst ist, dass Politik und Braunkohleunternehmen sich Leuchtturmprojekte wie das Autismuszentrum rauspicken und unsere übrigen Pläne unter den Tisch fallen lassen.“ Offizielle Aussagen der Mibrag, was sie mit ihrem Besitz vorhat, gibt es bislang nicht.
Einige Menschen im Ort treibt die Sorge um, dass Pödelwitz zur seelenlosen Ferienhaussiedlung wird. Denn Pläne von Mibrag und Lokalpolitik könnten den Ort in eine Eins-a-Lage katapultieren: Nach Ende der Förderung soll ein Teil des Schleenhainer Tagebaus, die Kohlegrube Peres, geflutet werden. Dann würde sich vor Pödelwitz, als Teil des sogenannten Leipziger Neuseenlandes, ein riesiger See ausbreiten. Die Immobilienpreise würden nach oben schnellen, Pödelwitz könnte sich zum Spekulationsobjekt entwickeln.
Einen Ausblick auf die mögliche Zukunft als Ferienziel erlaubt der Cospudener See am Südrand von Leipzig. Das Tagebaurestloch, benannt nach dem Dorf Cospuden, das es nicht mehr gibt, ist ein Publikumsmagnet mit Tausenden Gästen im Jahr. Eine halbe Stunde mit Tram und Bus vom Hauptbahnhof Leipzig entfernt öffnet sich der Blick auf mehr als vierhundert Hektar glitzerndes Wasser. Schilf und hohe Gräser umrahmen den groben Sandstrand, darüber kreisen Möwen.
Zunächst trübt nichts den Eindruck einer Naturidylle. Doch wenn der Blick über Sonnenbadende, planschende Kinder und knutschende Pärchen schweift, erscheint am Horizont das Kraftwerk Lippendorf mit seinen Türmen, die ohne Unterlass weiße Puffwolken ausstoßen.
Diesen Artikel finden Sie in unserer bisher weiblichsten Ausgabe 6.21 „Yes She Can“ des Greepeace Magazins. Im Schwerpunkt dreht sich alles um inspirierende Frauen weltweit, die sich gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und für gerechtere Gesellschaften einsetzen. Darin können Sie lesen, wie viele an die Schalthebel der Macht drängen, um es anders zu machen und den Wandel voranzutreiben – als Anwältinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Aktivistinnen. Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!